Die Mitteilung ist im kalten Amtsdeutsch verfasst. „Ihr Mann“, heißt es im Schreiben an die Witwe von Helmuth Stieff, „hat überhaupt kein nationalsozialistisches Unrecht erlitten, er hat sich vielmehr erschossen und ein erledigendes nationalsozialistisches Unrecht nicht abgewartet.“ Im Klartext: Weil sich der Generalmajor, ein Mitverschwörer gegen Hitler vom 20. Juli 1944, vor der Verhaftung das Leben nahm, stehe seiner Frau keine Kriegsopferrente zu.
Bürokratensätze wie dieser lösen 70 Jahre nach dem Umsturzversuch nur noch Kopfschütteln aus. Das war lange nicht so selbstverständlich. Im Nachkriegsdeutschland galten Widerständler als suspekt, sagt Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.
Heldenmythos oder Diffamierung – für einige waren die Menschen im Widerstand Vorkämpfer für die Demokratie, für andere „Vaterlandsverräter“. DDR-Historiker und auch die West-Alliierten sahen in der Auflehnung der Offiziere gegen Hitler den Versuch, vor der absehbaren militärischen Niederlage die eigene Haut zu retten. Der 20. Juli, schrieb der Publizist Joachim Fest, sei ein Gedenktag zweiter Klasse.
Schon Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg war sich dieses Dilemmas bewusst. „Es ist Zeit, dass etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird“, schrieb der führende Kopf des Aufstandes gegen Hitler.
Tatsächlich hielt die Mehrheit der Deutschen bis zuletzt dem Regime die Treue. Auch für Stauffenberg war der Weg in die Opposition nicht selbstverständlich. Der Sohn eines Hofmarschalls von König Wilhelm II. von Württemberg sah die Nazis zunächst als Träger „nationaler Erneuerung“. Er war begeistert, als der „Narr“ Hitler Russland überfiel. Mit der Ausrottungspolitik, die er aus nächster Nähe erlebte, wurde er zum Gegner des NS-Regimes.
Die Hoffnung, dass sich Deutschland aus eigener Kraft von Hitler befreien würde, lebte kurz – genau genommen weniger als 24 Stunden. Sie gründete auf falschen Annahmen und lastete auf einer nur kleinen Gruppe mutiger Menschen. Noch am Abend des 20. Juli war die „Operation Walküre“ gescheitert. Hitler überlebte, Stauffenberg und einige Helfer wurden sofort hingerichtet, Hunderte Verhaftungen folgten. Tragik und Größe des Widerstands – sie liegen in jenen dramatischen Stunden eng zusammen.
Kam die Erhebung der Offiziere zu spät? Sozialdemokraten, Kommunisten und engagierte Christen hatten sofort nach Hitlers Machtantritt den Kampf aufgenommen. Der schwäbische Tischler Georg Elser handelte als Einzelgänger, als ihm am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller nur knapp ein Anschlag auf Hitler misslang. Als sich einige aus der Elite dann zum Handeln entschlossen, hatte Deutschland den Kontinent mit Krieg überzogen, der Holocaust war voll im Gang.
Militärs hatten immer wieder über einen Umsturz nachgedacht. Die Kriegserfolge zwischen Herbst 1939 und Frühjahr 1941 ließen aber viele Unzufriedene zögern – ein Verhängnis, wie der britische Historiker und Hitler-Biograf Ian Kershaw schreibt. Führende Persönlichkeiten des Widerstands hätten auf einen „richtigen Augenblick“ gewartet, der niemals gekommen sei.
Von Nationalkonservativen bis zu Kommunisten reichte das lose Bündnis. Dazu gehörten etwa der einstige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler und der Kreisauer Kreis. Sie alle strebten ein sofortiges Kriegsende an. Die Alliierten beäugten diese Bestrebungen mit Misstrauen. Ein erfolgreicher Umsturz hätte das Bündnis mit der Sowjetunion gefährden können.
Der Widerstand litt auch an einer dramatischen Personalnot. Das wird in Stauffenbergs Doppelrolle als Attentäter und führender Kopf deutlich. Der Offizier war körperlich eingeschränkt. In Nordafrika war er verwundet worden, hatte ein Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken Hand verloren. Doch nur Stauffenberg hatte unter den Verschwörern die Chance, in Hitlers Nähe zu gelangen. Am 20. Juli wurde der Oberst in die „Wolfsschanze“ zitiert. Kurz vor der Besprechung mit Hitler aktivierte er die Bombe. Die Aktentasche mit dem Sprengstoff stellte er neben den Kartentisch. Kurz vor der Detonation verließ Stauffenberg das Hauptquartier und bestieg eine Maschine nach Berlin. Dort warteten die Generäle im Oberkommando des Heeres in der Bendlerstraße auf grünes Licht für die „Operation Walküre“. Stauffenberg ging noch vom Tod Hitlers aus – ein bitterer Trugschluss.
So gründete der geplante Ablauf auf falschen Annahmen. Der Stabsoffizier Henning von Tresckow hatte in Geheimarbeit die Alarmpläne der Wehrmacht umgearbeitet. Nach Hitlers Tod sollte das Militär den NS-Machtapparat ausschalten, ohne dass die Kommandeure die Absicht der Verschwörer erkannten.
Die Entschlossenheit wurde von zaghaften Generälen untergraben. Sie wollten „Sicherheiten“, dass der Diktator tot war. Als Hitler im Rundfunk sprach, war das Scheitern besiegelt. Rund 200 Mitglieder des Widerstandes wurden vom „Volksgerichtshof“ abgeurteilt, hingerichtet oder in Konzentrationslagern ermordet. In den folgenden neun Monaten starben weitere Millionen Menschen. Seinem Leben setzte Hitler selbst ein Ende.
Helmuth Stieffs Witwe bekam nach einem neunjährigen Rechtsstreit 1960 eine Witwenrente. Ihr Mann habe „offensichtliches Unrecht“ erlitten, entschied das Bundessozialgericht.
Umfrage zum 20. Juli 1944
Wofür das Datum „20. Juli 1944“ steht, weiß nicht einmal mehr die Hälfte der Bundesbürger. Nur noch 45 Prozent der Deutschen über 16 Jahren nannten laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie dazu das Attentat auf Adolf Hitler durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Im Westen der Bundesrepublik waren es sogar nur noch 43 Prozent nach 59 Prozent im Jahr 1970 und 61 Prozent im Jahr 1985. Das Attentat vor 70 Jahren und der nachfolgende Umsturzversuch gegen das nationalsozialistische Regime gelten als größter organisierter Widerstandsversuch im sogenannten Dritten Reich. Heute wisse vor allem die jüngere Generation wenig darüber, schreiben die Meinungsforscher. Nur 26 Prozent der 16- bis 29-Jährigen könnten den 20. Juli dem Attentat auf Hitler zuordnen. Unter den Abiturienten in dieser Altersgruppe sind es 42 Prozent. Fast jeder zweite Bürger wolle dennoch, dass der Tag in Erinnerung bleibe. Für die Umfrage wurden 1499 Personen ab 16 Jahre in Deutschland repräsentativ ausgewählt. Sie wurden in der Zeit vom 25. April bis 9. Mai befragt. Text: epd