Wenn man die Stimmung auf Parteiklausuren beschreiben will, greift man gerne zu Bildern. Besonders beliebt sind Metaphern mit dem Wetter (dunkle Wolken, eisige Orkanböen, Schneegestöber) oder gerupfte Parteisymbole (umgefallener Schriftzug, zerrissene Fahne). In diesem Fall reicht ein Blick in Martin Schulz? Augen. Da ist zu sehen, wie ernst die Lage ist. Der SPD-Chef steht enorm unter Druck. Er wirkt gehetzt, als er am Mittwoch um 14.15 Uhr im Kloster Irsee die bayerische Landtagsfraktion besucht. Das Gesicht starr wie eine Maske.
Es ist kein Zufall, dass nach zehn Jahren ausgerechnet jetzt wieder ein Parteichef die 42 Genossen aus dem Bayerischen Landtag aufsucht. Schulz wandert als Werbetrommel durchs Land. Vor wenigen Monaten war er noch Gegner Nummer eins einer Großen Koalition. Jetzt will er seine Leute davon überzeugen, den Weg für Koalitionsverhandlungen mit der Union freizumachen. Und da hat er auch in Bayern noch ein gutes Stück Arbeit vor sich.
„GroKo“ or „No GroKo“ – für viele auch in der bayerischen SPD ist das eine existenzielle Frage wie Sein oder Nichtsein. Doch anders als Shakespeares Hamlet sprechen sie darüber nicht mit einem Totenschädel, sondern mit ihrem Parteichef. Am Mittwochnachmittag empfängt die Landtagsfraktion Schulz fast euphorisch mit Ovationen. Dann schließen sich für eineinviertel Stunden die Türen zum Festsaal.
Der Parteichef spricht von einer „lebhaften“ Diskussion
Als sie sich wieder öffnen, dankt Schulz Landeschefin Natascha Kohnen und Fraktionschef Markus Rinderspacher für den „Rückenwind“. Es muss gut gelaufen sein für ihn. Ein paar Punkte seien „lebhaft diskutiert worden“, berichtet der Parteichef. Die Stimmung sei „ganz ausgezeichnet“ gewesen. Die Abgeordneten geben die Komplimente zurück. Der Schulz-Auftritt sei „keine Verkaufsshow“ gewesen, sagt Florian von Brunn. „Besonders gut ist angekommen, dass Martin Schulz keine Basta-Politik a la Gerhard Schröder machen will. Er will die Basis mitnehmen.“ Reicht das?
Natascha Kohnen schätzt, dass ihr Landesverband derzeit etwa in drei Teile zerfällt: ein Drittel für Verhandlungen über eine neue Große Koalition, ein Drittel dagegen, ein Drittel unentschieden. Die Stimmung sei „nachdenklich“. Ähnlich dürfte die Lage in anderen Landesverbänden sein.
Kohnen selbst hat immer gesagt, dass sie keine Freundin einer GroKo ist. Doch jetzt, da sie das Sondierungspapier in Berlin mitverhandelt hat, ist sie überzeugt davon, dass es sich lohnt, weiterzumachen. Sie sagt, je öfter man das 28-seitige Sondierungspapier lese, desto mehr SPD-Inhalte gebe es zu entdecken. Das erinnert an eines dieser Wimmelbilder. Nur dass viele in der Partei trotz langem Hinschauen die SPD-Erfolge trotzdem nicht sehen können. Kohnen versucht nun, den Laden zusammenzuhalten. Sie ist aber auch eine von jenen, die sagen, die SPD müsse in einigen Themenfeldern nun weiterverhandeln, zum Beispiel bei der Bürgerversicherung und in der Flüchtlingspolitik. Die Sondierungen hätten nur dazu gedient, überhaupt mal abzutasten, ob in den „großen Punkten was geht“.
Nach der Bundestagswahl am 24. September hatte Martin Schulz den Wählern und seiner Partei versprochen, in die Opposition zu gehen. Das fanden viele gut. Dann hat er doch Sondierungsgespräche mit der Union aufgenommen. Das fanden viele nicht gut. Und dann haben er und die Parteispitze ein Sondierungspapier ausgehandelt, das auch viele nicht gut finden. Nun ist die SPD tief gespalten, vielleicht so tief wie nie zuvor in ihrer langen Geschichte. Leidenschaftlicher Streit und endlose Diskussionen gehören von jeher zur DNA der SPD. Doch was derzeit abläuft, hat das Potenzial, die Partei komplett zu zerrütten.
Die Führungsebene wirbt seit einigen Tagen leidenschaftlich für GroKo-Verhandlungen. Schulz allen voran. Praktisch alle Landeschefs, Minister und sonstige Amtsinhaber sprechen sich ebenfalls dafür aus. Zwölf SPD-Oberbürgermeister großer Städte, darunter der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter und sein Nürnberger Kollege Ulrich Maly, sind überzeugt, dass es sich lohnt, weiterzuverhandeln. Auch die bayerische Landtagsfraktion ist zu mehr als 90 Prozent für Verhandlungen. Aber aus dieser Fraktion fahren nur drei Leute zum Sonderparteitag am Sonntag. Und an der Basis ist die Stimmungslage eine ganz andere.
SPD-Mann Florian Freund gehört zu denen, die seit Wochen offen gegen eine Große Koalition rebellieren. Am Wahlabend war er zwar schockiert über das Ergebnis der SPD, aber froh über Schulz? Ankündigung, in die Opposition zu gehen: „Ich habe mich auf Sozialdemokratie pur gefreut und auf die Aussicht, dass es endlich wieder klar unterscheidbare Volksparteien gibt“, sagt Freund. Über die 180-Grad-Wende der Parteispitze und das Ergebnis der Sondierungen ist er stinksauer. „Das, was jetzt vorliegt, ist gar nichts, das ist lachhaft“, schimpft er. So wie er denken viele an der Basis.
Mitregieren und unter die Räder kommen – oder Erneuerung?
Eine Einsicht eint Gegner wie Befürworter, in der Partei und außerhalb: Sie glauben, dass nichts weniger als die Zukunft der SPD als Volkspartei auf dem Spiel steht.
Sollen die Sozialdemokraten wieder mit Angela Merkels Union mitregieren und damit Gefahr laufen, als Juniorpartner der GroKo endgültig unter die Räder zu kommen und ihr Profil zu verlieren? Oder sollen sie sich in der Opposition inhaltlich und personell erneuern? Wobei die Bayern-SPD das seit vielen Jahren versucht – ohne Erfolg. Das sind – ganz grob – die beiden Richtungen. Keiner kann im Moment genau sagen, wie stark die jeweiligen Lager sind. Und am Sonntag steht in Bonn der Sonderparteitag an, bei dem über die Frage abgestimmt wird, ob die SPD GroKo-Verhandlungen aufnehmen soll. Es ist eine Schicksalsfrage.
Wenn die 600 Delegierten und der 45-köpfige Bundesvorstand sich gegen die GroKo aussprechen, kann das ganz gravierende Folgen für die SPD haben. Und für Parteichef Schulz sowieso. Er wäre wohl weg. Kämen dann Neuwahlen, davon gehen viele hochrangige Sozialdemokraten aus, würde die Partei noch weiter abschmieren. Gäbe es dagegen nur eine knappe Mehrheit für GroKo-Verhandlungen, hinterließe das eine zerrissene Partei. Die meisten gehen davon aus, dass es knapp wird.
Die schwäbische Bezirksvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr hat in einer Rundmail an die Parteimitglieder um ein Stimmungsbild gebeten. Es sei „nicht schlimm, verschiedene Meinungen zu haben“. Es komme aber darauf an, wie man miteinander umgeht, sagt Bahr. Klingt da bereits die Angst durch, was passieren könnte, sollte am Sonntag kein klares Ergebnis zustande kommen? Ein anderer hochrangiger Sozialdemokrat wird deutlicher: „Dann zerreißt es uns.“
Der renommierte Politikwissenschaftler Professor Werner Weidenfeld, Direktor des Münchner Centrums für angewandte Politikforschung, kann diese Ansicht nur unterstreichen. Von der SPD gehe derzeit vor allem das Signal innerer Zerrissenheit aus und nicht das eines Gestaltungsauftrags. „Wenn das so weitergeht, droht dieser traditionsreichen Volkspartei eine echte Existenzkrise“, sagt der Politikforscher. Es komme nicht von ungefähr, dass der frühere SPD-Vorsitzende und jetzige Linken-Politiker Oskar Lafontaine mit seinem feinen Näschen für Stimmungen in diesen Tagen die Idee einer neuen linken Volkspartei aufgebracht habe. Er rieche förmlich die Schwäche der SPD.
Ein „dramatischer strategischer Fehler“ der SPD, so Weidenfeld, sei, dass die Partei die „große Chance für eine echte Zukunftsstrategie verpasst“ habe. Das Sondierungspapier sei eine „politik-buchhalterische Fleißarbeit“. „Der Traum vom Aufbruch in eine neue Ära sieht anders aus“, bilanziert Weidenfeld.
Wahrscheinlich hat sich Martin Schulz das auch alles anders vorgestellt. Am Montag und Dienstag war er in Nordrhein-Westfalen unterwegs, um die Genossen zu überzeugen. NRW schickt mit Abstand die meisten Delegierten zum Parteitag, nämlich 144. Das ist fast ein Viertel. Es folgen Niedersachsen (81) und Bayern (78). Mehrere kleine Landesverbände wie Berlin, Thüringen und Sachsen-Anhalt haben sich gegen Verhandlungen ausgesprochen. Die Lage ist unübersichtlich.
Schulz kämpft – selbst im Live-Chat mit Facebook-Nutzern
Und daher kämpft Martin Schulz die ganze Woche. Selbst in einem Live-Chat mit Facebook-Nutzern.
Und er muss sich gegen ständig neue Attacken von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wehren, der erst von einem „Zwergenaufstand“ in der SPD sprach, dann sagte, man könne die SPD „nicht in der Sänfte in die Koalition tragen“ und schließlich vorschlug, notfalls spreche er auf deren Parteitag.
Doch nicht nur CSU-Mann Dobrindt wundert sich darüber, dass es die SPD nicht schafft, die Ergebnisse der Sondierungen positiv zu vertreten. Selbst im Bundesvorstand gibt es Leute, die gravierende Fehler in der Kommunikationsstrategie bemängeln. Ob sich das bis zum Sonntag noch ändern lässt?
In der Anti-GroKo-Bewegung verbinden sich bei der SPD diejenigen, die schon immer gegen eine Neuauflage der Großen Koalition waren, mit denjenigen, die mit den Sondierungsergebnissen nicht zufrieden sind. Insgesamt sind das viele, und schon drängt sich die Frage auf, was passiert, wenn es am Ende zu einer Koalitionsvereinbarung kommt. Denn die SPD hat sich darauf festgelegt, darüber in einem Mitglieder-Entscheid bestimmen zu lassen. Am Ende hätte also die Basis wieder das Wort. Ausgang völlig offen. Streit gehört eben zum Wesen dieser Partei.
Ach ja, das Wetter während der Klausur im Ostallgäu: dunkle Wolken, eisige Orkanböen, Schneegestöber. Und, kein Witz, eine Minute vor Schulz? Ankunft: ein Sonnenstrahl.