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LONDON
Die Stones und der Exhibitionismus
byl
 |  aktualisiert: 29.05.2016 03:29 Uhr

Zigarettenkippen mischen sich mit gammeligen Essensresten auf in der ganzen Wohnung verstreuten Tellern. Im Waschbecken in der Küche türmt sich schmutziges Geschirr, dazu stehen leere Flaschen herum und solche mit saurer Milch. Die ungemachten Betten bieten hier fast einen Lichtblick. Aber der Müffel. Der Gestank. Lebten hier „animals“, „Tiere“, wie die britische Presse Anfang der 60er Jahre mutmaßte?

Im Gegenteil: Die Bewohner dieser Wohnung sollten vielmehr Musikgeschichte schreiben. Der Gestank rührte vor allem aus dem Mix aus Chicken Tandoori und Fish&Chips. Rolling-Stones-Frontmann Mick Jagger liebte das indische Gericht, der britische Fast-Food-Dauerbrenner war die Leibspeise von Keith Richards, Gründungsmitglied Brian Jones und Band-Kumpel James Phelge. In der heruntergerockten WG in Edith Grove im Londoner Stadtteil Chelsea hausten die Rolling Stones ab 1962 als Teenager, kurz bevor sie ihren Durchbruch feierten.

Fans werden zu Rockstars

Die Absteige wurde für eine Ausstellung über die wohl berühmteste Rockband der Welt in der Londoner Saatchi Gallery rekonstruiert, inklusive Duftnoten. „Exhibitionismus“ heißt die Schau – und der Titel verspricht die Entblößung, die auf zwei Stockwerken folgen soll. Die Musikstars, deren Motto es stets war, nicht zurückzublicken, tun genau das. Sie lassen Besucher durch die vergangenen Jahrzehnte streifen mithilfe von Instrumenten, Tagebuchnotizen von Keith Richards und Dutzenden Outfits, etwa Jaggers schwarzem Omega-Shirt, das er beim Altamont-Konzert 1969 trug, oder der goldglitzernde Overall eines Auftritts in den 70er Jahren. Bislang unveröffentlichte Fotografien, Bühnenskizzen, Videoinstallationen und Tour-Plakate werden gezeigt.

Die ärmlichen Verhältnisse vom Beginn der Karriere stehen im krassen Kontrast zu den sensationellen Bühnenspektakeln, für die die Band bis heute bekannt ist und die den immensen Erfolg der musikalischen Ikonen veranschaulichen. Mittels 3-D-Brillen werden Fans zu Rockstars und genießen den Moment, den Mick Jagger schon tausendfach erlebt hat. Man tritt aus dem Backstage-Bereich hinaus auf den Laufsteg, hinaus in die jubelnde Menschenmasse, umgeben von Richards und Co. Der unfassbare Lärm erzeugt Gänsehaut. Es ist selbst durch die Brille einfach nur überwältigend.

Die Botschaft dieser monumentalen Ausstellung kommt laut, glamourös und eindrucksvoll an, was sonst? Die Rolling Stones haben mit ihrer exzentrischen Musik, ihren Live-Shows und den Provokationen – man denke nur an das Logo der herausgestreckten Zunge, dem ebenfalls ein Raum gewidmet ist – nicht nur den Rock 'n' Roll geprägt wie kaum eine andere Band. „Sie hatten auf bedeutsame Weise Einfluss auf unsere Kultur“, sagt Kuratorin Ileen Gallagher und verweist auf Albumcover oder Bühnendesigns sowie auf Künstler wie Andy Warhol oder Designer Alexander McQueen, mit denen die Musiker zusammenarbeiteten.

Anhand von rund 500 Objekten reist der Besucher durch mehr als 50 Jahre Bandgeschichte. Es ist eine unterhaltsame und gleichwohl eindringliche Erinnerung daran, wie lange die Rolling Stones bereits die Bühnen dieser Welt rocken. Die Stars – mit zusammengerechnet 286 Jahren selbst im Museumsalter – verkündeten allein durch den Ausstellungstitel, sich entblößen zu wollen und haben bereits bei der Eröffnung auf dem roten Teppich die Befriedigung daran offenbart, beobachtet, bestaunt, bewundert zu werden. Sie gaben sich persönlich die Ehre, weil die Band und insbesondere Mick Jagger großen Einfluss auf das Konzept und die Umsetzung der Ausstellung hatten.

Ist die Schau in vielen Teilen nicht eher weniger exhibitionistisch als vielmehr eine Selbstbeweihräucherung? Manifestiert sie nicht den Heiligenstatus? Frauengeschichten lässt die Retrospektive komplett aus, obwohl man gerne mehr über Affären, Kinder und Ehen erfahren hätte. Kaum ein Wort von sexuellen Eskapaden, Drogenskandalen, Alkoholexzessen. Nur schwerlich lassen sich Makel finden. Selbst der Tod von Brian Jones wird thematisch kaum angerissen. Die bekannten Spannungen und Konflikte zwischen Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ronnie Wood gab es der Schau zufolge ebenfalls nicht, dafür unaufhörlich harmonische Freundschaft. Negativ-Geschichten passen nicht zum Heldenmythos. Die Stones feiern die Stones und sie verdienen, wie die Stones das eben tun.

Denn die Band hat nicht nur Musikgeschichte geschrieben, sie ist auch der unangefochtene Meister der Kommerzialisierung, das zeigt die Ausstellung ebenfalls. Bessere Selbstvermarktung? Kaum möglich. Der Profitgedanke steckt mittlerweile hinter jedem Ton, jedem Konzert, jedem Poster. Und diese Ausstellung, so kritisierten die teils wütenden Medien auf der Insel, ziehe den Fans das Geld aus der Tasche.

Teil des Establishments

Nicht nur die Eintrittspreise haben es in sich, der Ausstellungs-Shop dürfte einzigartig in seiner Art des Merchandisings sein. Eine Einkaufstasche ist für 250 Pfund (umgerechnet rund 315 Euro) zu haben, der Kosmetikkoffer hat den schlappen Preis von 1390 Pfund (etwa 1800 Euro). Ein Feuerzeug mit dem Logo der Band – die aus großen roten Lippen herausgestreckte Zunge – kostet mehr als 230 Euro. Ursprünglich galt diese provokante Geste dem britischen Establishment.

Längst aber, das zeigt der Souvenirladen auf entlarvende Art und Weise, sind die Rolling Stones selbst im Establishment angekommen.

Ausstellungsdauer in der Saatchi Gallery (King's Road): bis 4. September, täglich von 10 bis 18 Uhr. Eintritt: 25 Pfund.

 
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