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Die Schande von Chemnitz
Gewalt: Erst stirbt ein Deutscher nach einer Messerattacke, zwei Flüchtlinge sitzen in Untersuchungshaft. Dann ziehen Tausende Rechtsextremisten durch die Straßen. Experten reden von Selbstjustiz und sagen: Das hat sich abgezeichnet.
Von Harald Lachmann und Andreas Frei
 |  aktualisiert: 11.12.2019 21:40 Uhr

Am Anfang steht eine schreckliche Bluttat. Steht die Polizei, die binnen Stunden zwei Verdächtige fasst; Asylbewerber, die nun in Untersuchungshaft sitzen. Und steht die Justiz, die ein Verfahren einleitet und Haftbefehle erlässt. Am Ende wird, sollte die Schuld der Täter bewiesen sein, ein Urteil im Namen des Volkes stehen. Dann droht den beiden Flüchtlingen eine längere Gefängnisstrafe. Ein Prozedere, das diesen Staat zu einem Rechtsstaat macht. Das ist das eine.

Wenn es nun schon so weit ist, dass dies alles offenbar keine Rolle mehr spielt. Dass sich ein rechter Mob seine eigenen Gesetze zurechtlegt, sich rasend schnell Sympathisanten aus dem ganzen Bundesgebiet zusammensucht, an zwei Tagen mit wüsten Parolen durch die Straßen zieht, Hetzjagden auf Ausländer veranstaltet und Experten daraufhin von „Selbstjustiz“ reden, die zu einem Trend geworden sei. Wenn es also so weit ist, was sagt dies dann über den Zustand der Republik, zumindest über Teile davon?

Chemnitz, Sachsen. 250 000 Einwohner, 7,3 Prozent Arbeitslose, 8,1 Prozent Ausländeranteil. In einem Jahr ist Landtagswahl, derzeit würden 25 Prozent die AfD wählen. Bis zur Wende hieß die Stadt Karl-Marx-Stadt, und es ist ein ziemlich bizarrer Randaspekt eines ziemlich erschreckenden Ereignisses, dass sich Rechtsextremisten, Hooligans und Pegida-Anhänger für ihren Protest am Montag ausgerechnet vor dem Denkmal des kommunistischen Vordenkers aufgebaut haben.

Kurz vor 21 Uhr haben sie endgültig freie Bahn. Unbehelligt von der zahlenmäßig ohnehin viel zu schwachen Polizei, ziehen sie nun ihre Bahn auf einer nicht genehmigten Runde vom Karl-Marx-Monument durch die Innenstadt. Schon zuvor haben sich immer wieder gewaltbereite Teilnehmer aus einer angemeldeten Demonstration der rechtspopulistischen Bewegung „Pro Chemnitz“ gelöst, um mit Flaschen und Böllern linke Gegendemonstranten, Journalisten und auch Polizisten zu attackieren.

Und wie schon seit Stunden grölen die Neonazis auch jetzt ihre bekannten Parolen: „Deutschland den Deutschen“, „Frei, sozial, national“ oder „Hier marschiert der nationale Widerstand“.

Als der Spuk vorbei ist, zieht die Polizei Bilanz: 6000 Menschen auf der Rechten-Demo, 1000 Gegendemonstranten, 20 Verletzte, darunter zwei Polizisten, 43 Anzeigen, davon zehn gegen Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) stellt die Frage aller Fragen: „Wie ist es möglich, dass sich Leute verabreden, ansammeln und damit ein Stadtfest zum Abbruch bringen, durch die Stadt rennen und Menschen bedrohen? – das ist schlimm.“ Und dann gibt es den Versuch, Erklärungen zu finden.

Da ist Oliver Malchow, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Er sagt der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: „Der Staat ist dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen. Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehren und Selbstjustiz bauen.“ Nach Ansicht der Gewerkschaft hat der Staat mit Schuld an dieser Entwicklung. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16 000 Stellen bei der Polizei habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien.

Am Montag sind in Chemnitz 591 Beamte im Einsatz – zu wenige, wie sich später herausstellt. Landespolizeipräsident Jürgen Georgie räumt ein, man habe nicht mit so vielen Demonstranten gerechnet. Man habe zwar die Zahl der Beamten im Laufe des Tages verdoppelt, sei aber aufgrund von Erfahrungswerten davon ausgegangen, dass auch nur doppelt so viele Teilnehmer kommen, als angemeldet waren, nämlich insgesamt 1500. Und Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) antwortet auf die Frage, ob die Polizei stets Herr der Lage gewesen sei: „Ich sehe das Ergebnis. Das Ergebnis stimmt.“ Nun sollen zusätzliche Einheiten der Bereitschaftspolizei nach Chemnitz entsandt werden, um weitere Vorfälle zu verhindern.

Allerdings: Schon den ganzen Sonntag über haben Gruppen wie die als rechtsextremistisch eingestuften Hooligans „Kaotic Chemnitz“, aber auch AfD-Politiker und die in Bad Dürkheim beheimatete Neonazipartei „Der III. Weg“ zu einer „Spontandemo“ getrommelt. Ist es da nicht vorhersehbar, dass die für Montag angemeldeten Zahlen womöglich übertroffen werden?

Regierungschef Kretschmer sagt, die Mobilisierung im Internet sei stärker als in der Vergangenheit. „Sie beruht auf ausländerfeindlichen Kommentaren, auf Falschinformationen und auf Verschwörungstheorien“. Dann braucht es nur ein Ereignis, einen Auslöser, um das Netzwerk zu aktivieren. In Chemnitz war dies die tödliche Messerstecherei am Rande des Stadtfestes.

Wie an den Tagen zuvor legen auch am Dienstag viele Bürger Blumen am Tatort ab. Manche bleiben ein paar Minuten stehen, jemand hat ein gerahmtes Bild des Opfers aufgestellt. Eine Sonnenblume verdeckt fast den angebrachten Trauerflor. Hier sind in der Nacht auf Sonntag zwei Gruppen mit bis zu zehn Personen unterschiedlicher Nationalitäten aufeinander losgegangen. Dabei wurden drei Männer durch Messerstiche verletzt – zwei Russlanddeutsche, 33 und 38 Jahre alt, sowie ein 35-jähriger Deutscher, ein gelernter Tischler. Medien berichten von kubanischen Wurzeln, was die Staatsanwaltschaft aber nicht bestätigt. Der Mann wurde so schwer verletzt, dass er kurze Zeit später im Krankenhaus starb. Noch in der Nacht nahm die Polizei zwei Tatverdächtige fest, einen 23-jährigen Syrer und einen 22-jährigen Iraker. Am Montag erließ die Staatsanwaltschaft Haftbefehle wegen gemeinschaftlichen Totschlags.

Am Dienstag sagt eine Sprecherin: „Nach dem bisherigen Erkenntnisstand bestand keine Notwehrlage für die beiden Täter.“ Gerüchte im Internet, den Messerstichen sei ein sexueller Übergriff auf eine Frau vorausgegangen, dementiert Landespolizeipräsident Georgie. Das habe sich nicht bestätigt. Die Behörden stehen am Anfang ihrer Ermittlungen. Das ist, zwei Tage nach einer solchen Bluttat, Normalität in einem rechtsstaatlichen Verfahren. So bleiben vorerst Fragen, auf die es noch länger keine klaren Antworten geben wird.

Zum Beispiel die, wie es möglich sein konnte, dass die sächsischen Polizeibeamten schon am Sonntag hilflos und überfordert wirkten, als Fußball-Hooligans und weitere rechte Demonstranten eine ausländerfeindliche Hassparade in der Chemnitzer City veranstalteten, als gehöre die Stadt ihnen. Politische Beobachter sprechen schon lange von einer radikalisierten Basis aus AfD und Pegida, die mittlerweile so hochmütig sei, dass sie glaubt, die Regeln diktieren zu dürfen. Das geht bis hin zum Vorwurf, die rechte Szene sei auch deshalb so selbstbewusst, weil sie die Polizei wie die politisch Verantwortlichen in der seit 1990 regierenden CDU mehr oder weniger auf ihrer Seite weiß.

Ministerpräsident Kretschmer, so viel steht fest, hat schon kürzlich keine gute Figur abgegeben, nachdem die Polizei am Rande einer Pegida-Veranstaltung in Dresden ein ZDF-Fernsehteam festgesetzt hatte und sich ein Demonstrant, der den Fall ausgelöst hatte, als Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes herausstellte. Und jetzt?

Am Sonntagmittag, also nach der tödlichen Messerattacke, twitterte er mit Usern über eine geplante Veranstaltung in Chemnitz. Aber zu den aktuellen Ereignissen verlor er nicht ein Wort – trotz Nachfrage. Erst Montagnachmittag twittert Kretschmer: „Wir stehen als Freistaat an der Seite der Stadt Chemnitz.“ Wen und was immer er damit gemeint haben will.

Kretschmer liegt damit auf einer Traditionslinie, die ihm alle seine Amtsvorgänger seit 1990 vorgaben. Schon Kurt Biedenkopf behauptete in den 1990er Jahren, als in vielen Städten des Landes gewalttätige Skinhead-Gangs für Angst und Schrecken sorgten, die Sachsen seien „immun gegen den Rechtsradikalismus“. Mit dieser „jahrelangen Verharmlosung von Rechtsextremismus und Rassismus“ habe Sachsen nun ein Problem, sagt der Experte für Rechtsradikalismus Robert Lüdecke. Man habe es „jahrelang nicht ernst genommen und kleingeredet, vor allem von den politisch Verantwortlichen, aber leider auch von den Sicherheitsbehörden. Und das rächt sich nun“.

Bei einem Rückblick auf ähnliche Exzesse, wie sie Sachsen seit vielen Jahren ereilt – von Hoyerswerda über Freital und Heidenau bis ins erzgebirgische Clausnitz –, wollen manche Beobachter sogar Methode erkannt haben. Mit Informationen von dpa

 
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