Geschlafen hatte Mark Norka nicht viel. Seine russische Frau fütterte beim Frühstück am Donnerstagmorgen im Shalyapin-Hotel von Kasan zwar gerade das Kleinkind, aber die durchwachte Nacht in der kurzen Dunkelzeit hatte andere Ursachen. „Ich habe mich immer gefragt, warum man solch ein Spiel verlieren muss.“ Eine Antwort auf die Frage fiel ihm ja nicht ein, so dass er seine Eindrücke aus dem deutschen Fanblock beim WM-Aus gegen Südkorea (0:2) schilderte: „Die Mannschaft hat Fußball gespielt, als wollten alle schnell in den Urlaub. Das ist doch unerklärlich.“
Die letzten Spuren schwarz-rot-goldener Schminke hingen wie Schatten aus besseren Zeiten auf seinen Wangen.
Eigentlich war auch er voller Vorfreude in die Tatarenstadt gekommen, um gegen Südkorea den Achtelfinaleinzug zu erleben; stattdessen wurde der aus Viersen stammende Fan von Borussia Mönchengladbach Augenzeuge von Auflösungserscheinungen wie bei einem Kreisklassenkick auf einem Ascheplatz am Niederrhein. Gekostet hatte ihn die Karte übrigens 9900 Rubel, umgerechnet etwa 135 Euro. Dazu der Flug von Düsseldorf nach Moskau und die Unterbringung. Trotz allem Frust bemühte er sich um eine differenzierte Bewertung des sportlichen Debakels.
Über die Sozialen Netzwerke hatte aus Deutschland längst auch Hohn und Spott Russland erreicht. Etwa die über WhatsApp versandte Abbildung, dass das deutsche Trikot ab Montag bei Lidl, Aldi und Co. erhältlich sei. Der Preis von 99,95 rot durchgestrichen. Dafür 2,75 Euro – elfmal 25 Cent Flaschenpfand.
Früher wurden die elf Versager wahlweise in leeren Bierflaschen oder als Bratwürste am nächsten Morgen in der „Bild“ gedruckt. Heute macht so etwas direkt nach Abpfiff die Runde. Das wird sich wohl nie ändern: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Und doch ist es neu, dass das Jersey mit dem eigentümlichen Zackenmuster auf einmal Ramschware sein soll. Mit das Schlimmste, was dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) mit seiner gerne als Premiumprodukt titulierten A-Nationalmannschaft passieren kann. Sie ist die Lokomotive, die mit ihrer globalen Strahlkraft alle mitziehen soll. „Die Mannschaft“, wie es in der törichten Kommunikationsstrategie heißt, sollte weltweit als Qualitätsbegriff gelten. Als Gütesiegel. Gerade die russische Bevölkerung reckte fortwährend den Daumen, wenn sie auf Fan-ID oder Akkreditierung identifizierte, dass jemand aus „Germaniya“ komme. Sogar den Namen von Joachim Löw konnten die meisten aussprechen.
Wie es mit dem Bundestrainer weitergeht, ist unklar. Nach der Rückkehr am Donnerstagnachmittag auf dem Frankfurter Flughafen wiederholte Löw, dass er sich mit einer Entscheidung Zeit lassen wolle. „Wir müssen überlegen, welche Fehler wir gemacht haben. Es braucht tiefgehende Maßnahmen, klare Veränderungen.“ In der kommenden Woche soll es Gespräche geben, „dann werden wir eine Antwort geben“, so Löw.
Der Imageschaden ist noch gar nicht absehbar. Und damit auch die langfristigen Negativeffekte. Beziffert werden lässt sich vorerst nur, dass die krachend gescheiterte Mission Titelverteidigung auch finanziell ein Zuschussgeschäft gewesen ist: Mit dem Vorrunden-Aus bekommt der DFB nur 9,1 Millionen Euro an FIFA-Prämien überwiesen, die Kosten sollen sich aber auf 10,8 Millionen belaufen. Der wirtschaftliche Verlust ist das Eine, die sportliche Werteinbuße das Andere.
Nun ist es nicht so, dass die DFB-Direktion für die Bereiche Nationalmannschaften und Fußball-Entwicklung die Antennen nicht schon längst ausgefahren hätte. Diese größte Abteilung verantwortet seit Jahresbeginn Oliver Bierhoff, und gerne sähe sich der smarte Macher als visionärer Projektentwickler. Man hat sich zuletzt im Silicon Valley, beim Internet-Giganten Google oder NBA-Klub Golden State Warrios umgesehen. Getrieben vom Anspruch, die Benchmark zu bilden, wie es Bierhoff gerne formuliert. Die neue DFB-Akademie, für deren Bau der Verband 150 Millionen Euro in die Hand nehmen wird, nennt er „Think Tank“. Eine Denkfabrik, die mit allen vernetzt werden sollte. Notfalls bis zum Mond.
Nun müssen die Gedanken eine ganze Spur geerdeter ausfallen, denn das Raumschiff ist hart gelandet. So heftig, dass die feinen Risse mehr zum Vorschein kommen. Im Nachwuchsbereich hinken die ersten deutschen U-Teams hinterher; auch hier hat der Gewinn der U-21-EM vergangenen Sommer den Blick für die Realitäten verstellt. Keiner jener Protagonisten war gut genug, um bei der WM zu helfen. Kein Einziger stand im Kader.
Und der deutsche Klubfußball? Auch er steht nicht besser da. In den internationalen Wettbewerben schafft es nur Bayern München seit Jahren hinein ins Frühjahr, der Rest verliert seit einer Dekade mit schöner Regelmäßigkeit gegen Teams wie Ludogorez Rasgard aus Bulgarien oder Sorja Luhansk aus der Ukraine.
Bierhoff hat ob der sich abzeichnenden Nachwuchsproblematik in Hintergrundgesprächen Alarm geschlagen. „Wir hatten vor einigen Jahren sechs oder sieben Toptalente in einem Ausbildungsjahrgang, jetzt sind es manchmal nur noch zwei oder drei. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht abgehängt werden“, warnte Bierhoff und verlangte bereits im März einen neuen Masterplan.
Auf den neuerdings bis 2024 an den Verband gebundenen Vordenker könnten gewaltige Herausforderung warten, weil der 50-Jährige als Krisenmanager an vielen Fronten gefragt ist. Auch die Vermarktungsstrategie und Preispolitik gehören hinterfragt, wenn selbst bei einem Freundschaftsspiel wie gegen Frankreich im November vergangenen Jahres in Köln Abertausende Plätze leer bleiben. Und es ist auch kein Automatismus, dass das erste Heimspiel der beim Publikum noch unbekannten Nations League am 6. September in München – dann wieder gegen Frankreich – ausverkauft sein wird.
Überdacht werden muss ferner, ob die Abschottung das Aushängeschild wirklich selig macht. Zugpferde wie der FC Bayern oder Borussia Dortmund erleiden keinen Schaden, wenn sie sich im Alltag fast nur noch verschanzen, weil ihre Spieler im Drei-Vier-Tages-Rhythmus auftreten und ständig Präsenz zeigen. Eine Nationalmannschaft soll aber ein Stück weit auch Botschafter sein, so wünscht sich das schließlich der DFB selbst, doch schon das Trainingslager in Südtirol geriet im Vorlauf der WM nur zur Demonstration der Wagenburg-Mentalität.
Die blickdichten Planen um das Hotel Weinegg in Eppan waren eingedenk der wenigen Zaungäste eigentlich nur ein Zeichen, wie abgehoben diese Mannschaft in Wahrheit ist. Vielleicht hat der WM-Titel auch im Umfeld des Teams dafür gesorgt, dass Demut verlustig ging. Das zeigte sich immer wieder an Kleinigkeiten. Etwa daran, wie Verantwortliche der Presseabteilung mit Journalisten umgingen. Als die Fotografen und Schreiber nach dem offiziellen Mannschaftsfoto in Südtirol aufgefordert wurden, den Platz zu verlassen, klang das so: „Runter mit der Gnu-Herde.“ Vielleicht war es lustig gemeint.
Die Fußball-Gemeinschaft war tatsächlich nur ein Fragment wie ihr von hippen Marketinghelden erfundenes Leitmotiv #ZSMMN
Dem irren Slogan fehlten die Vokale, der Mannschaft verantwortungsbewusste Spieler. Zusammen passte nämlich diesmal nur wenig. Das Binnengefüge hat sogar die Risse abbekommen, die sich durch eine seit der umstrittenen Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin Angela Merkel zunehmend polarisierte Gesellschaft ziehen.
Zur Unzeit erreichte selbst den vierfachen Fußball-Weltmeister die Integrationsdebatte. 2014 erklomm das Ensemble von Joachim Löw das oberste Podium als harmonische Einheit. Multi-Kulti als Trumpf. Tatendurstige junge Männer, die das beste Beispiel für Integration und Zusammenhalt abgaben. Ein Weltmeister ohne Weltstar, in der ein jeder unabhängig von Hautfarbe und Religion seinen Anteil hatte.
Und 2018? Ist mit dem Zusammentreffen der türkischstämmigen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mitsamt Fotoshooting in London mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan mehr kaputt gegangen als die meisten wahrhaben wollten?
Nach Kapitän Manuel Neuer deutete in der Nacht zu Donnerstag auch der Führungsspieler Thomas Müller an, dass die Affäre auf die Mitspieler nach innen abgestrahlt habe. Und nach außen sowieso. DFB-Präsident Reinhard Grindel beging einen Riesenfehler, als der 56-Jährige im Dortmunder Fußballmuseum das Thema am liebsten einen Tag nach Veröffentlichung der Fotos – mit Überreichen eines im Fall Gündogan handgeschriebenen Trikots – weggekickt hätte. Das können Schiedsrichter tun, wenn Balljungen eilfertig einen zweiten Ball aufs Feld werfen. So kann sich heutzutage aber kein Verbandsboss verhalten.
Spätestens als Özil seine Anwesenheit beim Medientag im Trainingscamp in Eppan schwänzte, wäre auch Grindel wieder gefragt gewesen. Die irritierenden Leistungen der beiden aus Gelsenkirchen stammenden Akteure, an denen Bundestrainer Löw aus sportlichen Erwägungen für die Kadernominierung nachvollziehbar festhielt, waren nicht nur Wasser auf die Mühlen der populistischen Kritiker. Mit Özils blutleeren Darbietungen wird dieser Graben noch schwerer zuzuschütten sein, auch wenn es töricht wäre, den bald 30-Jährigen als Alleinverantwortlichen zu brandmarken. Aber die Affäre bildet keinen unwichtigen Mosaikstein im Vertrauensverlust.
Das alles ist Gift für den Verband, der eigentlich bald seine künftige Wissensschmiede und Verbandszentrale auf dem Gelände der Frankfurter Galopprennbahn fertiggestellt haben wollte. Doch Einsprüche und Klagen widerspenstiger Pferdefreunde verzögerten den Baubeginn immer wieder – da konnte Bierhoff noch so sehr mit den Hufen scharren. Eigentlich hatte der Spatenstich einmal mit dem Abflug des Weltmeisters am 8. Juni zur WM in Russland zusammengelegt werden sollen. Auch das ließ sich nicht realisieren.
Dass der ganze Tross nun bereits drei Wochen später wieder auf dem Frankfurter Flughafen einschwebt, ohne dass sich im mittlerweile verwaisten und recht trostlos wirkenden Komplex im nahe gelegenen Stadtteil Niederrad Entscheidendes getan hat, ist bezeichnend. Foto: Daniel ROLAND, afp Mitarbeit: Achim Muth