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Die nächste Flüchtlingstragödie
Flucht und dann? So viel Glück wie diese Afrikaner hatten die meisten Insassen des Schiffes nicht, das am Wochenende vor der libyschen Küste sank. Unser Bild entstand am Donnerstag im tunesischen Hafen Zarzis. Auch diese Flüchtlinge wollten von Libyen nach Lampedusa. 82 Personen wurden von tunesischen Fischern aus Seenot gerettet.
Foto: Fethi Nasri, afp | Flucht und dann? So viel Glück wie diese Afrikaner hatten die meisten Insassen des Schiffes nicht, das am Wochenende vor der libyschen Küste sank. Unser Bild entstand am Donnerstag im tunesischen Hafen Zarzis.
reda
 |  aktualisiert: 11.01.2016 11:48 Uhr

Es ist mitten in der Nacht, die Flüchtlinge in dem voll besetzten Fischerboot sind verzweifelt. Sie haben um Hilfe gerufen, ein portugiesischer Frachter nähert sich. Die Migranten wollen die Retter erreichen und klettern auf eine Seite des Bootes. Daraufhin kentert ihr Schiff, Hunderte Menschen stürzen ins Meer und ertrinken. So rekonstruieren die Einsatzkräfte die nächste Flüchtlingstragödie im Mittelmeer, bei der bis zu 700 Flüchtlinge vor der Küste Libyens ertrunken sein könnten. Das Entsetzen in Italien und Europa ist groß.

„Eine der größten Tragödien, die jemals im Mittelmeer geschehen ist“, sagt Carlotta Sami, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, dem TV-Sender Rai. „Die Grausamkeit der Schleuser ist unglaublich, sie haben das Boot bis zum Unmöglichen gefüllt.“ Tausende Migranten fahren jede Woche von Afrika aus ab, fliehen vor Krieg, Konflikten, Verfolgung, Hunger und Verzweiflung. Immer wieder kommt es zu Unglücken, Hunderte überleben die gefährliche Überfahrt nicht.

Als die Retter am Sonntag am Unglücksort nördlich der libyschen Küste eintreffen, können sie kaum noch etwas tun. Fast 700 Menschen werden vermisst, Küstenwache und Marine suchen mit Dutzenden Booten und Hubschraubern hektisch nach Überlebenden. Doch die Einsatzkräfte können nur noch Leichen bergen, 24 tote Körper haben sie bis zum Mittag aus den Fluten gefischt. Das Wasser hat 16 Grad, die meisten der Flüchtlinge konnten zudem wohl nicht schwimmen.

Erst vergangene Woche hatten Überlebende von 400 vermissten Migranten berichtet, vor einigen Tagen schockierten Berichte über einen tödlichen Streit zwischen Christen und Muslimen an Bord eines Schiffes. „Wenn sich die Bilanz dieser erneuten Tragödie bestätigen sollte, sind in den vergangenen zehn Tagen mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen“, sagt Sami. Es ist eine schockierende Bilanz – und bei gutem Wetter im Sommer wagen meist sogar noch mehr Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt in Richtung Europa.

Doch wie viele Menschen tatsächlich Jahr für Jahr im Mittelmeer sterben, weiß niemand so genau. Die meisten Opfer der Schiffsunglücke werden nie geborgen – die Zahlen lassen sich daher nur schätzen. Sicher ist jedoch: In den vergangenen Jahren sind es mehr und mehr Verzweifelte, die sich auf den gefährlichen Weg machen. Und seit dem Ende der italienischen Rettungsmission „Mare Nostrum“ im vergangenen Jahr steigt auch die Zahl der Toten auf dem Mittelmeer wieder an.

In Italien herrschten nach der Katastrophe Schock und Entsetzen. Papst Franziskus betete in tiefer Trauer auf dem Petersplatz für die Opfer, Regierungschef Matteo Renzi sagte alle Termine ab und kehrte nach Rom zurück, um sich dort über die Geschehnisse zu informieren. In vielen sizilianischen Gemeinden sollten die Fahnen am Montag auf halbmast wehen. Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando klagte: „Europa kann sich seine Hände angesichts dieser Massaker nicht weiter in Unschuld waschen. Es muss seine Verantwortung übernehmen.“

Damit werden auch die Rufe nach einem entschlosseneren Eingreifen der EU lauter. Ob Politiker, Hilfsorganisationen oder der Papst, alle sind sich einig: Es muss etwas geschehen. „Jetzt ist der Moment für die EU, die Tragödien ohne zu zögern anzugehen“, erklärt die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Antonio Marchesi, Präsident von Amnesty International Italien, urteilt: „Die Passivität Europas wird angesichts der Tragödien immer skandalöser und unerträglicher.“

Dramen im Mittelmeer

Das Flüchtlingsdrama vom Wochenende ist nicht das erste im Mittelmeer. Februar 2015: Vor der italienischen Insel Lampedusa kommen möglicherweise mehr als 330 Flüchtlinge ums Leben. Sie waren in kaum seetüchtigen Schlauchbooten unterwegs. September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit angeblich mehr als 500 Migranten im Mittelmeer untergeht. Überlebende sagen, Menschenschmuggler hätten das Schiff vor Malta versenkt. Juli 2014: Bei einer Flüchtlingstragödie vor Libyen ertrinken mindestens 150 Menschen nahe Khums. Oktober 2013: Mindestens 366 vor allem aus Somalia und Eritrea stammende Flüchtlinge ertrinken bei Lampedusa. Ihr Boot brennt und kentert. Die Küstenwache rettet 155 Personen. Danach startet Italien das Seenotrettungsprogramm „Mare No-strum“, das 2014 endet. Text: dpa/AZ

 
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