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Die Müllfischer
Ernährung: Statistisch gesehen wirft jeder Deutsche im Jahr 82 Kilogramm Lebensmittel weg. Robin und Maria wehren sich gegen diese Verschwendung und suchen ihr Essen in Müllcontainern vor Supermärkten. Wir haben sie bei einem Streifzug in Würzburg begleitet.
Wundertüte Abfallcontainer: Würzburger Müllfischer beim nächtlichen Beutezug vor Supermärkten auf der Suche nach noch verwertbaren Lebensmitteln.
Foto: Frank Wunderatsch | Wundertüte Abfallcontainer: Würzburger Müllfischer beim nächtlichen Beutezug vor Supermärkten auf der Suche nach noch verwertbaren Lebensmitteln.
reda
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:32 Uhr

Vorsichtig schauen sich Robin* und Maria* um. Ihre schwarzen Kapuzen sind tief ins Gesicht gezogen. Sie greifen in ihre Jacken und stülpen sich Handschuhe über. Die Stirnlampen auf ihren Köpfen flackern. Mit schnellem Schritt geht es unauffällig über den Parkplatz ums Eck. Dort stehen die Müllcontainer des Supermarktes. Plötzlich springt das Licht an. Die beiden lassen sich nicht beeindrucken. Robin hebt den Deckel einer Tonne. Ein modriger Gestank kommt ihm entgegen. Mit seinen Händen wühlt er sich bis zum Boden. Dabei zieht er immer wieder Gegenstände heraus und gibt sie Maria. Es sind Tomaten, Paprika und andere Lebensmittel.

Robin und Maria gehen „Containern“, sie durchsuchen die Restmülltonnen der Supermärkte nach Essbarem. Obst, Gemüse, Käse, Brot und Fleisch. Sie ernähren sich davon – von Lebensmitteln, die aus den Regalen genommen wurden. Manchmal, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten wurde. Manchmal, weil neue Ware gekommen ist. Manchmal entspricht die Ware einfach nicht mehr dem Anspruch der Gesellschaft. Mit dem „Containern“ üben die jungen Leute Kritik an der Wegwerfgesellschaft. Sie wollen damit eine Art stillen Protests erheben. Die Konsumkritik kam Mitte der 60er-Jahre in den USA auf. Während der Hippiebewegung entstand der „Freeganism“ (ein Wortspiel auf „free = frei“ und „vegan“). In den 90ern haben die sogenannten „Containerer“ einen Teil diese Lebensstils, das „Mülltauchen“ („Dumpster Diving“) übernommen.

Pro Kopf und Jahr werfen die Deutschen laut der Initiative „Zu gut für die Tonne“ insgesamt rund 82 Kilogramm Essen weg. „Somit landet jedes achte gekaufte Lebensmittel im Müll. Das entspricht etwa 235 Euro pro Person“, erklärt Steffen Ortwein, der Sprecher der Gruppe aus Berlin. Er kritisiert neben der reinen Lebensmittelverschwendung auch die Vergeudung der Ressourcen. So seien für die Produktion von einem Kilo Äpfel alleine 700 Liter Wasser nötig. Am meisten weggeworfen werden Gemüse und Obst. Ganze Netze mit Äpfeln, Birnen, Paprika und Orangen landen im Müll, weil nur ein Stück darin vergammelt ist oder Druckstellen aufweist. Genauso werden zum Beispiel neun Eier weggeworfen, weil eines in der Schachtel zerbrochen ist. Unappetitlich finden das die Kunden. Sie achten neben der Frische und der Qualität auch auf die Ästhetik.

Das Aussehen ist für Robin Nebensache, er verlässt sich auf seinen Geruchs- und Geschmackssinn: „Joghurt, Käse und Fleisch sind auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch genießbar.“ Nicht umsonst heißt es „mindest“ – es sei keinesfalls ein Wegwerfdatum. Es garantiere lediglich, dass das Produkt bis zu diesem Termin seine spezifischen Eigenschaften wie Geruch, Geschmack und Konsistenz behält. Nach der Tour durch die Nacht zu mehreren Supermärkten ist Robins und Marias Kofferraum prall gefüllt. Zusammen mit ihren Mitbewohnern tragen sie die Kisten in ihre WG-Küche. Dort wird alles gewaschen und sortiert. Natürlich ist nicht alles in perfektem Zustand. Oft haben Gemüse und Obst Druckstellen, doch diese werden beim Putzen kurzerhand weggeschnitten. Typisch bei abgepackten Einheiten: ist in einem Netz Orangen eine verschimmelt, landen die andern neun Stück auch mit im Müll. Ein einfaches Spiel für die „Mülltaucher“. Netz auf – kaputtes Obst raus – fertig. In einem Nebenraum haben sie sich ein Lager mit Lebensmitteln eingerichtet. Fein säuberlich liegt alles geschichtet in Kisten. Da man nicht wie beim Einkaufen mitnimmt, was man gerade braucht, sondern das, was gerade da ist, muss man die Lebensmittel gut verwalten: einfrieren, lagern oder kochen.

Richtig eingekauft habend die Studenten schon lange nicht mehr. Sie sparen mit ihren Aktionen viel Geld. Zu sechst wohnen sie zusammen und geben im Monat insgesamt etwa nur 15 Euro aus – für Öl, Pfeffer, Salz und Kaffee. „Es ist ja nicht so, dass wir uns kein Essen leisten können. Wir machen es aus ethischen Gründen. Wir wollen nicht mit ansehen, wie Lebensmittel, die komplett in Ordnung sind, im Müll landen. Die schiere Masse ist erschreckend“, erklärt Robin. Besonders schlimm sei es, wenn man weggeworfenes Fleisch finde: „Dafür musste schließlich ein Tier sterben.“ Zur Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel fanden sie es kiloweise in den Tonnen

Doch nicht nur Milchprodukte, Obst, Gemüse und Brot finden die „Mülltaucher“. Ein paar besondere Fundstücke greift Maria heraus: Einmal haben sie zusammen insgesamt 75 Liter Bier gefunden, in kleinen Partyfässern, sie waren sogar noch eine Woche haltbar. Ein anders Mal fanden sie 25 Liter Reismilch, zu Silvester 15 Kilogramm Schweizer Raclette-Käse. Sauerbraten oder Rehrücken sind auch keine Seltenheit. „Wir laden uns dann immer Freunde ein und teilen die Beute mit ihnen oder machen kleine Feiern“, fügt Robin hinzu. Für drei Pakete mit je sechs Einweckgläsern, in denen jeweils ein Glas kaputt war, fanden sie genauso Verwendung wie für ein Paar Sicherheitsschuhe, an denen nur ein Schnürsenkel fehlte.

Das Fischen im Müll bringt den jungen Leuten nicht nur finanzielle Vorteile: „Zum einen leben wir im Überfluss und haben Essen, das wir uns als Studenten eigentlich nicht leisten könnten. Zum anderen leben wir gesünder: Wir wärmen keine Fertigprodukte auf, sondern kochen jeden Abend zusammen und nehmen dazu frische Lebensmittel“, erzählt Robin. Zudem schweißt das alles die Wohngemeinschaft enger zusammen, berichten sie: „Wir gehen zum Containern wie andere gemeinsam in eine Kneipe. Das ist ein tolles Abenteuer und jedes Mal spannend.“

Der Biochemiker Felix Berthold aus dem oberfränkischen Coburg mahnt zur Vorsicht. „Verunreinigungen können schwere Krankheiten nach sich ziehen. Denken sie an Salmonellen. Ungefährlich ist dies nicht. Man muss aufpassen, was man auswählt“, warnt er. Verdorbene Lebensmittel können neben Brechdurchfall auch zu Allergien führen. „Grundsätzlich sollten keine schnell verderblichen Waren aus der Mülltonne gegessen werden“, rät Berthold. Mit entsprechender Vorsicht sei das Containern unbedenklich. Rechtlich ist das „Mülltauchen“ ein Graubereich. Zwar gehört der Abfall dem Supermarkt. Doch hat er einen geringen Wert, sodass es selbst bei einer Anzeige meistens nicht zu einer Verurteilung kommt. Im Lagebild der Würzburger Polizei hat „Containern“ keine statistische Relevanz. Ihr ist bisher nur ein Fall bekannt, der jedoch schon eine gewisse Zeit zurückliegt. Wird jemand auf frischer Tat ertappt, verfolgt dies die Polizei natürlich und klärt, ob der Supermarktinhaber Strafantrag stellt. Die Dunkelziffer dürfte jedoch um einiges höher liegen. „Beim Containern kommt am ehesten der Tatbestand des Hausfriedensbruchs zum Tragen“, weiß Michael Schaller, Pressesprecher am Landgericht Würzburg. Denn klettert jemand über Zäune oder öffnet ein Tor, auch wenn es unverschlossen ist, dringt er widerrechtlich ein und kann vom Grundstückseigentümer angezeigt werden. Da es sich jedoch um ein Antragsdelikt handelt, wird es von der Polizei nur verfolgt, wenn der Eigentümer einen Strafantrag stellt. Bei Hausfriedensbruch kann bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe verhängt werden.

Robin und Maria haben bisher keine Schlösser aufgebrochen oder sind über Zäune geklettert. Sie passen auf, dass sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Robin selbst wurde schon einmal in einer andern Stadt beim Containern von der Polizei erwischt und kontrolliert: „Das war in der Anfangszeit und etwas mulmig war mir dabei schon zumute.“ Er spielte damals mit offenen Karten und erkläre alles. Nach Rücksprache mit dem Filialleiter ließen ihn die Beamten aber wieder gehen, obwohl der Rucksack voll mit Lebensmitteln war. Robin vermutet, dass oft keine Anzeige erstattet wird aus Angst davor, die Medienpräsenz könne dem Ruf der Supermärkte schaden. „Wir wollen nichts Böses“, erklärt die Gruppe von Studenten beim Abendessen. Sie wünscht sich, dass der Zugang zu den weggeworfenen Lebensmitteln nicht erschwert wird – egal, ob per Gesetz oder durch Schlösser an den Tonnen oder Zäune. Die Müllfischer haben eine klare Meinung: „Es ist zehnmal illegaler, Lebensmittel einfach wegzuschmeißen.“

 
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