Bundeskanzlerin Angela Merkel saß am Montag in Paris mit ihren Amtskollegen aus Frankreich, Italien und Spanien zusammen, um über Lösungen in der Flüchtlingskrise zu beraten. Europa will ganz im Süden mit der Problemlösung beginnen, deshalb waren auch die Staatschefs der Transitländer Tschad und Niger in Paris dabei. Eine besondere Rolle bei den Gesprächen dürfte auch die Lage in Libyen gespielt haben. Der Mann der Stunde dort ist der Chef der zwar schwachen, aber international anerkannten Übergangsregierung, Fajes al-Sarradsch, der ebenfalls bei den Gesprächen zugegen war.
Al-Sarradsch gilt als Hauptverantwortlicher für den drastischen Rückgang der Überfahrten von der libyschen Küste nach Italien in diesem Sommer. Im August des Vorjahres erreichten noch 21 294 Menschen Italien über die zentrale Mittelmeerroute, in diesem Monat waren es bislang erst 2932, das ist ein Rückgang um etwa 90 Prozent.
Bereits im Juni und Juli kamen 57 Prozent weniger Flüchtlinge aus Libyen nach Italien. Normalerweise wagen wegen der günstigen Wetterbedingungen besonders viele Menschen im Sommer die Überfahrt, der Rückgang trotz gegenläufiger Prognosen in diesem Jahr ist auffällig.
Nach der offiziellen Lesart ist in erster Linie die Arbeit der von al-Sarradsch kontrollierten und von der EU unterstützten libyschen Küstenwache der Grund für die Trendwende. Offenbar gibt es aber auch eine andere wesentliche Ursache für den Rückgang.
Wie es heißt, unterbindet eine der zahlreichen in Libyen tätigen Milizen die Abfahrt der Flüchtlinge nahe der Küstenstadt Sabratha. In der Umgebung des 70 Kilometer westlich von Tripolis gelegenen Ortes legen die meisten Flüchtlingsboote ab. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete über eine aus mehreren hundert Zivilisten, Polizisten und Militärs bestehende Gruppe namens „Brigade 48“, die das Territorium um Sabratha kontrolliert und bis vor kurzem selbst am Menschenschmuggel beteiligt gewesen sein soll. Flüchtlinge sollen von den Mitgliedern der Bande in einem Lager zusammengepfercht worden sein. Die Miliz sei von einem „früheren Mafiaboss“ ins Leben gerufen worden.
Internationale Beobachter bestätigten entsprechende Berichte. „Seit einiger Zeit gibt es eine neue bewaffnete Gruppe in der Stadt, die offenbar dafür sorgt, dass die Schmuggler nicht mehr ablegen“, zitiert die „Welt“ Mattia Toaldo, den Libyenexperten des European Council for Foreign Relations (ECFR). Es gebe Hinweise darauf, dass ein in der Region mächtiger Milizen- und Schmuggelchef die Seiten gewechselt habe. Als Grund für den Seitenwechsel wird angegeben, dass die Miliz nach Legitimation und finanzieller Unterstützung durch die von al-Sarradsch geführte Übergangsregierung in Tripolis strebt, die wiederum von der EU unterstützt wird. Begibt sich Europa damit de facto in die Hände ehemaliger Menschenhändler, die die Flüchtlinge jederzeit als Druckmittel benutzen können?
Dass die etwa 70 Kilometer westlich von Tripolis gelegene Küstenstadt das Zentrum der Schlepperorganisationen war, bestätigte auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex. „Auseinandersetzungen bei Sabratha, einer Schlüsselregion für die Abfahrten“, hätten den Menschenschmuggel zuletzt verringert, berichtete Frontex Mitte August. Inzwischen scheint die Lage zumindest vorübergehend unter Kontrolle zu sein, allerdings unter fragwürdigen Bedingungen.
Wie der französischsprachige Sender RFI Afrique berichtet, kooperiere die „Brigade 48“ auch mit anderen Milizen wie der Al-Wadi-Brigade, die direkt von Tripolis bezahlt wird. Chef der Gruppe sei Ahmed Dabashi.
Ob die italienische Regierung, die sich als ehemalige Kolonialmacht besonders aktiv in Libyen einmischt, diese Vorgänge bewusst in Kauf nimmt, ist bislang nicht bekannt. Zweifellos hat Italien besonderes Interesse daran, die Fluchtroute über das Mittelmeer zu schließen. Im Jahr 2016 kamen 181 000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien, dieses Jahr waren es bislang etwas mehr als 98 000. Innenminister Marco Minniti setzt insbesondere auf die Kooperation mit Gemeinden und Stammesführern in Libyen, um Flüchtlinge von der Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Auch die ehemalige Schlepperhochburg Sabratha profitierte zuletzt etwa von Medikamentenlieferungen.