„Endlich sind sie fertig“, atmete Deutschland kollektiv auf, als am 12. März vergangenen Jahres die Spitzen von Union und SPD ihre Unterschriften unter den Koalitionsvertrag setzten und zwei Tage später Kanzlerin Angela Merkel und das Kabinett vereidigt wurden. Lange Wochen hatte es nach der Bundestagswahl gedauert, bis das schwarz-rote Bündnis stand. Das Ausland verlor angesichts der Unfähigkeit, innerhalb einer akzeptablen Zeit eine Regierung zu bilden, das Vertrauen in die deutsche Zuverlässigkeit. Auch das Wahlvolk hatte Zweifel - und damit den richtigen Riecher.
Denn Schwarz-Rot brauchte erst fünf Monate, um sich zu finden und aneinander zu binden. Danach hätte die Koalition von Null auf Hundert durchstarten können, schließlich hatte sie schon die Regierung davor gestellt. Doch der Zündfunke setzte keinen funktionierenden Regierungsmotor in Gang.
Dafür waren Faktoren verantwortlich, die bis heute noch Wirkung entfalten. Nicht gelegt hat sich beispielsweise der Frust in der Union darüber, dass das Finanzministerium von der CDU an die SPD überging. Noch heute murren sie in der Union über den Wegfall ihres einstigen Stamm-Ressorts.
Es knirscht im Getriebe
Der Motor läuft auch deshalb so schlecht, weil er nicht abgestimmt ist. Auf Arbeitsebene, so berichten Ministeriumsarbeiter, sei die Zusammenarbeit gut. Je höher es in der Rangfolge geht, desto mehr knirscht es jedoch im Getriebe. Bestes Beispiel sind die ewigen Streitereien zwischen Verkehrsminister Andreas Scheuer von der CSU und der SPD-Umweltministerin Svenja Schulze.
Aber nicht nur zwischen Union und SPD läuft es unrund, auch CDU und CSU fechten manchen Strauß aus. Schon fast in Vergessenheit geraten ist der Streit im vergangenen Sommer, als der damalige CSU-Chef Horst Seehofer unter dem Druck der bevorstehenden bayerischen Landtagswahl in der Flüchtlingsfrage nahezu jeden Tag die Christdemokraten und ihre Vorsitzende Merkel provozierte. Die Kanzlerin musste als Antwort mit ihrer Richtlinienkompetenz drohen.
Die Union ist allerdings gar nicht auf die CSU angewiesen, wenn sie sich intern zerfleischen will. Das schafft die CDU auch ganz gut alleine, wie die Debatte über eine frühzeitige Stabübergabe von Kanzlerin Merkel an die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zeigt. Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte listig insistiert, ein Wechsel im Kanzleramt sei unumgänglich. Prompt entbrannte eine heftige Debatte, die erzkonservative CDU-Vereinigung „Werteunion“ blies ins Feuer und forderte Merkel zum Rücktritt auf.
Ungeliebtes Zweckbündnis
Tief sind die Gräben nicht nur in der Union. Ein Jahr nach dem erneuten Gang in das ungeliebte Zweckbündnis ist die deutsche Sozialdemokratie mit dem nackten Überleben beschäftigt. Und dass Überleben und Regieren sich gegenseitig ausschließen, glauben immer mehr Genossen. Die Stimmen derer, die schon die alte Koalition mit der Union für das historisch schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten bei einer Bundestagswahl verantwortlich machten und vor der Neuauflage warnten, sind sogar noch lauter geworden. Kein Wunder bei Umfragewerten um die 15 Prozent.
Nach langem inneren Ringen, gegen den erbitterten Widerstand eines runden Drittels der Parteimitglieder und auf mehr als sanften Druck von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war die SPD in die Regierung eingetreten. Auf Betreiben der Skeptiker um Juso-Chef Kevin Kühnert wurde in den Koalitionsvertrag eine Revisionsklausel hineinverhandelt, die sich nun als Sollbruchstelle für das Bündnis zu erweisen droht. Schon im kommenden Herbst steht die Halbzeitbilanz an. Eine längere Phase der effektiven Regierungsarbeit ist so fast unmöglich geworden.
Gründe für einen Ausstieg
Schon jetzt mobilisieren die Gegner der großen Koalition wieder, sehen überall Gründe für einen Ausstieg. Die Union lehnt die Rentenpläne von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil ab? Die teuren Sozialreformen, mit denen die glücklose Parteivorsitzende Andrea Nahles den linken Markenkern aufpolieren will, sind mit CDU und CSU nicht zu machen? In der Anti-GroKo-Fraktion der SPD gibt es auf diese und weitere Fragen derzeit nur eine Antwort: raus, raus und nochmal raus.
Da können Andrea Nahles und Olaf Scholz noch so sehr davor warnen, dass ein Bruch der Koalition für die Genossen womöglich fatale Folgen hätte. Eigene Erfolge, die die SPD in der Regierung durchaus zu verbuchen hat, würden mal wieder völlig untergehen. Wohlklingende SPD-Herzens-Projekte wie das Gute-Kita- oder das Starke-Familien-Gesetz wären schnell vergessen.
Grüne können sich freuen
Die Opposition im Bundestag kann dabei zusehen, wie die Regierung sich selbst zerlegt. Freuen können sich im Moment vor allem die Grünen, eigentlich kleinste Oppositionspartei. Während Linke, AfD und FDP in Umfragen knapp unter ihren jeweiligen Ergebnissen der Bundestagswahl liegen, haben sie ihren Wert fast verdoppelt.
Die Frage ist jedoch, was die Alternative zu Schwarz-Rot wäre? Platzt die große Koalition, gäbe es vor allem drei Möglichkeiten. Eine Minderheitsregierung, eine Neuauflage von Jamaika oder Neuwahlen.
Mögliche Szenarien
Zwei Szenarien sind unwahrscheinlich. Eine Minderheitsregierung wäre zu unsicher und entspricht nicht Merkels Naturell. Die Jamaika-Variante würde bedeuten, dass die Grünen als schwächste Fraktion mit einem FDP-Vizekanzler leben müssten, was angesichts ihrer derzeitigen Stärke undenkbar ist.
Unter Neuwahlen hätte vor allem die SPD zu leiden, sie wäre für lange Zeit raus aus der Regierung. Doch im politischen Berlin sind sich viele Spitzenpolitiker - auch in der Union -, darin einig, dass die Zerrissenheit der SPD die brennende Lunte an dieser explosiven Regierungskoalition ist. Eine sozialdemokratische Panikreaktion könnte das fragile Regierungsgebäude zum Einsturz bringen.
Wie es auch ausgehen wird: Das Herumlavieren der Regierungsparteien nervt das Wahlvolk jetzt schon. Nur knapp ein Drittel der Bevölkerung würde einer Emnid-Umfrage zufolge der großen Koalition eine Träne nachweinen. „Die machen mich fertig“, stöhnt Deutschland heute.