Es ist nicht gerade so, dass es in den vergangenen Monaten – mittlerweile haben sie sich gar zu Jahren summiert– an Abgesängen auf Theresa May gemangelt hätte. Wie viele politische Nachrufe wurden bereits auf die britische Premierministerin verfasst? Sie, die Zähe, die Widerspenstige, blieb stets Regierungschefin, welche Dramen es auch gegeben haben mag. Brexit, parteiinterne Krisen, Revolten aus den eigenen Reihen, Misstrauensvotum, demütigende EU-Gipfel, verlorene Abstimmungen. Und immer wieder Brexit. Diese Tage aber dürften endgültig ihre letzten in der Downing Street sein, will man den Westminster-Insidern glauben – ein Rücktritt nur noch eine Sache von Stunden, obwohl sich May weiterhin an ihr Amt zu klammern scheint.
Am Mittwochabend tauchte sie nämlich zunächst ab und gestern nur für ausgewählte Minister hinter verschlossenen Türen wieder auf. Mit ihnen wollte sie in einem letzten verzweifelten Versuch ihren „neuen kühnen Brexit-Deal“ diskutieren und überarbeiten. Doch der Schritt dürfte zu spät kommen, der Druck ist massiv. Bereits am heutigen Freitag könnte sie gezwungen sein, ein Datum für ihren Abschied zu nennen. Ohnehin redet das Land bereits in der Vergangenheitsform von ihr und die Presse begleitet beinahe brutal ihren politischen Niedergang. Unter einem Foto der Premierministerin titelte die Boulevardzeitung „The Sun“ gestern den leicht abgewandelten Vornamen „Tearesa“ in Anspielung auf ihre von einem glänzenden Tränenfilm überzogenen Augen.
Schicksal besiegelt
Es war am Mittwoch, als ihr Schicksal wohl besiegelt war – einen Tag nachdem May ihren Zehnpunkteplan präsentiert hatte, der unter anderem die Möglichkeit zu einem Referendum über das Austrittsabkommen vorsieht. Die Reaktionen fielen vernichtend aus, nicht nur bei der Opposition. Und so galt der Kompromissvorschlag, der Zugeständnisse an die Hardliner wie auch an Labour machen sollte, bereits als tot, bevor eine Abstimmung über den Vertrag angesetzt werden konnte. Die Konservativen schäumten derweil vor Wut, angeblich waren die Pläne, die wohl von May als Befreiungsschlag gedacht waren, aber genau das Gegenteil erreichten, nicht einmal mit dem Kabinett abgesprochen.
Es handelt sich dieses Mal deshalb auch nicht mehr nur um die üblichen Verdächtigen, die gegen ihre Vorsitzende rebellieren. Selbst ehemals loyale Parteikollegen fordern nun ihren Rücktritt, schmieden Plots und stellen sich hinter mögliche Nachfolger oder bringen sich gar selbst in Stellung. Ein Kabinettsmitglied erklärte, die Schwelle sei überschritten. Ein konservativer Abgeordneter klang derweil weniger diplomatisch: „Sie ist erledigt.“ Im Englischen haben sie den schönen Ausdruck: „She’s toast.“ Aus Protest gegen Mays Brexit-Strategie trat außerdem noch am Mittwochabend die Fraktionsvorsitzende Andrea Leadsom zurück, sie wird vermutlich ins Rennen um die Nachfolge von May einsteigen. Das ist bereits im vollen Gange, angeführt von Boris Johnson, dem ehemaligen Außenminister und lautstarken Brexit-Cheerleader. Er genießt insbesondere in der konservativen Parteibasis Popularität.
Tories erwarten Wahldesaster
Derweil wurde im Königreich gestern schon das neue Europaparlament gewählt, auch dieser Urnengang verspricht nichts Gutes für May. Die Brexit-Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage lag in den Umfragen zuletzt uneinholbar vor allen anderen, sie könnte auf knapp 40 Prozent kommen. Die Tories dagegen erwarten ein Desaster, dümpeln inzwischen in den Prognosen im einstelligen Prozentbereich. Farages Botschaft, nach der die Volksparteien angeblich „Verrat“ an der Nation begehen, weil sie den Brexit noch nicht geliefert haben, verfängt vor allem bei konservativen Europaskeptikern.
Schlägt mit der Verkündung der Ergebnisse am Montagmorgen auch die letzte Stunde für Theresa May? Oder will sie ihren Sturz gegen alle Widerstände weiter hinauszögern, um in der Ewigen-Liste der Premierminister Großbritanniens noch einen Platz vorzurücken? Erst nächsten Mittwoch würde sie hinsichtlich der Regierungsdauer aufschließen zum Ex-Premier Gordon Brown, der zwei Jahre und 319 Tage das Land führte. Angeblich wird die Länge von Mays Amtszeit tatsächlich in der Downing Street diskutiert, was „natürlich absurd“ klinge, wie ein Kommentator meinte. „Aber in solchen absurden Zeiten leben wir mittlerweile offenbar.“