Auf der Zielgeraden werden die Koalitionsverhandlungen zum Nervenkrieg. Die letzte Verhandlungsrunde, die am Dienstagmorgen im Konrad-Adenauer-Haus begonnen hat, ist auch 24 Stunden später noch längst nicht beendet. Die strahlend helle Wintersonne steht an diesem klirrend kalten Mittwoch schon fast im Zenit, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), SPD-Chef Martin Schulz und der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer am Rande des Berliner Tiergartens weiter um letzte Eckpunkte einer Neuauflage des schwarz-roten Regierungsbündnisses ringen.
Ein weiteres Mal waren die Gespräche in die Verlängerung gegangen. Dort, wo die Verhandlungen zwischen Union und SPD 13 Tage zuvor begonnen hatten, in der CDU-Bundeszentrale, gehen sie am Mittag dann doch zu Ende. Zwei „Puffertage“, die sich die 91 Spitzenvertreter der drei Parteien vorsorglich freigehalten hatten, waren nötig gewesen, und dann noch eine ganze Nacht und ein Vormittag. Herausgekommen sind nicht nur 177 Seiten mit den Vorhaben, die Union und SPD in einer gemeinsamen Bundesregierung in den kommenden vier Jahren umsetzen wollen. Oder wohl eher dreieinhalb, denn seit der Bundestagswahl sind bereits 137 Tage ins Land gegangen. Und ganz sicher ist es ja auch noch nicht, dass es wirklich klappt mit der nächsten GroKo – die Zustimmung der SPD-Basis steht noch aus.
Eine Vorgabe von 177 Seiten für die nächsten vier Jahre
Es ist genau dieser Umstand, die Bedrohung, dass am Ende doch noch alles scheitert, die diese Koalitionsgespräche so brisant gemacht haben wie vielleicht bei keiner Regierungsbildung zuvor. So sind die Ergebnisse andere, als die Kräfteverhältnisse nach der Wahl eigentlich erwarten lassen würden. Die SPD, die massive Verluste hatte hinnehmen müssen, die auf kaum mehr als 20 Prozent der Wählerstimmen abgesackt war und mit Martin Schulz als Kanzlerkandidat das schlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit erzielt hatte, war nach dem Scheitern der Gespräche über eine mögliche Jamaika-Koalition zwischen Union, FDP und Grünen plötzlich unverzichtbar für Kanzlerin Angela Merkel. Wollte sie sich in eine vierte Amtsperiode retten, musste sie der SPD weit entgegenkommen. Als die Kanzlerin am Mittwochnachmittag vor die Presse tritt, sieht sie nach über 30 Stunden ohne Schlaf erstaunlich frisch aus.
Das ausgehandelte Papier sieht sie „als gute Grundlage für eine stabile Bundesregierung“. Sie beteuert, die Anstrengungen der vergangenen Wochen hätten sich gelohnt. Nun gelte es, um Zustimmung zum Koalitionsvertrag zu werben – denn für Merkel geht es um alles beim SPD-Mitgliederentscheid. So klingt die CDU-Vorsitzende fast, als richte sie sich speziell an die Mitglieder der SPD, wenn sie sagt, dass den Menschen gerade in sozialen Bereichen mehr Sicherheit gegeben werden solle. Merkel widerspricht auch nicht, als SPD-Chef Martin Schulz herausstellt, wie sehr der Koalitionsvertrag eine „sozialdemokratische Handschrift“ trägt.
In der Nacht zuvor hatten die Unterhändler der Union der SPD auch in den beiden verbliebenen Knackpunkten sachgrundlose Befristung und Zweiklassenmedizin deutliche Zugeständnisse gemacht. Doch Kompromisse, über die sich vor allem die SPD freuen kann, hat Merkel am Ende unter dem Druck einer drohenden Ablehnung des Koalitionsvertrags durch die SPD-Basis vor allem auch bei der Zuteilung der Ministerien gemacht. „Dass die Frage, wer bekommt welches Ressort, keine einfache war, kann ich Ihnen verraten“, sagt Merkel.
Die gröbsten Sachfragen waren bereits Dienstagnacht gegen 10 Uhr gelöst. Die restliche Nacht hindurch soll es rein ums Personal gegangen sein. Die SPD, so heißt es, hat hart verhandelt, vor allem Fraktionschefin Andrea Nahles soll sich dabei hervorgetan haben – wie schon in den Tagen zuvor. Zwar sollen CDU und SPD künftig wie bisher jeweils sechs und die CSU drei Ministerien bekommen. Doch Merkel tritt der SPD das wichtige Finanzministerium ab. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz soll es erhalten, der sich hier bei den Verhandlungen auch stark engagiert hat. Zudem soll Scholz Vizekanzler werden – und nicht Martin Schulz, der sich das wohl erhofft hatte.
Dass der SPD-Chef enttäuscht habe, heißt es auch in den eigenen Reihen
Schulz bekommt aller Voraussicht nach das Außenministerium, obwohl ihm viele Parteifreunde davon abgeraten hatten, ins Kabinett zu gehen – was Schulz selbst nach der Wahl ausgeschlossen hatte. Zwar konnte sich Schulz parteiintern durchsetzen, trotzdem geht er nicht als Gewinner aus den Verhandlungen hervor. Als Parteichef habe er während der Gespräche enttäuscht, heißt es sogar in den eigenen Reihen.
Georg Nüßlein, Verhandlungsführer der CSU in der Gesundheitspolitik, hat Schulz als „Dank-Beauftragten“ der SPD erlebt. Wenn die Arbeitsgruppen den drei Chefs ihre Ergebnisse vorgetragen hätten, habe sich Schulz stets höflich für deren Arbeit bedankt. Dann habe er den Raum verlassen, um sich vor einer Entscheidung Rückendeckung zu holen. „Er hat offenbar keine Prokura mehr“, sagt der CSU-Politiker. In der SPD heißt es, dass die Fäden bei Andrea Nahles zusammengelaufen seien – die Schulz wohl an der Parteispitze ablösen wird.
Dass die SPD so gut abschneidet, nutzt am Ende indirekt auch der CSU. Denn so muss Merkel auch der bayerischen Schwesterpartei ordentlich etwas bieten. Hat die CSU bislang mit Verkehr, Entwicklung und Landwirtschaft drei eher kleine Ressorts inne, gibt es jetzt eine deutliche Aufwertung. Bei Verkehr und Entwicklungshilfe bleibt es, doch das Landwirtschaftsministerium wird gegen ein „Superministerium“ eingetauscht. Horst Seehofer soll in der künftigen Regierung das mächtige Innenressort übernehmen, das noch dazu um die Bereiche Heimat und Bauwesen erweitert wird. Wobei am Mittwoch selbst in der CSU noch längst nicht allen klar ist, was ein Bundes-Heimatminister eigentlich leisten soll.
Seehofer hatte sich selbst von engen Weggefährten zuletzt nicht in die Karten sehen lassen, alle Fragen über seine persönlichen Zukunftspläne stets weggelächelt.
Nicht wenige in der CSU hatten vermutet: Nachdem klar ist, dass Markus Söder ihn als Bayerischer Ministerpräsident ablösen soll, werde Seehofer seine politische Karriere auslaufen lassen. Seine auffällige Gelassenheit selbst nach nächtelangen Verhandlungen werteten manche als Zeichen, dass Seehofer sich den Stress eines Ministeramts im Bund nicht mehr antun werde. Er hat den aufreibenden Berliner Politikbetrieb bereits als Bundeslandwirtschaftsminister von 2005 bis 2008 kennengelernt.
Die Zweifler sollten sich täuschen. Seehofer hat noch längst nicht genug. Vielleicht, so heißt es nun, war er sich mit Merkel längst darüber einig, dass er „Superminister“ wird. Bei der Pressekonferenz grinst Seehofer bis über beide Ohren. Wenn man in Bayern mit etwas sehr zufrieden sei, dann sage man „Passt scho“. Das scheint auch für seinen eigenen Weg zu gelten.
Das Putengeschnetzelte von der SPD war der Tiefpunkt
Am Ende der langen Nacht kommen aber auch Verlierer aus dem Konrad-Adenauer-Haus heraus. Für Thomas de Maiziere steht am Morgen fest, dass er sein Amt an Seehofer abgeben muss. Mit versteinerter Miene tritt er vor die Kameras. Die Journalisten reagieren nicht gleich. Weil der Noch-Innenminister von der CDU in den Tagen zuvor meist wortlos an ihnen vorbei gegangen war, begreifen sie zunächst nicht, dass er nun doch etwas sagen will. Es sind Worte des Abschieds: „Als Minister hatte ich ein Amt auf Zeit, das war mir immer bewusst.“ Andere Ämter seien für ihn niemals infrage gekommen.
Dass Merkel der SPD so weit entgegengekommen ist, ärgert viele in ihrer eigenen Partei. CDU-Abgeordnete berichten am Nachmittag von verärgerten Reaktionen aus der Basis. „Dieses Verhandlungsergebnis ist ein Schlag ins Gesicht für jeden, der sich im Wahlkampf für die CDU engagiert hat“ heißt es in einer E-Mail an einen christsozialen Parlamentarier. Auch Angela Merkel wird womöglich auf dem für Ende Februar angekündigten CDU-Parteitag noch für die GroKo werben müssen. Doch am Mittwoch überwiegt bei vielen der Politiker die Erleichterung.
Vorbei sind die langen Nächte mit dem stundenlangen Warten auf den Gängen, dem Essen, das in Warmhalteschalen aus Edelstahl vor sich hin köchelt. Das matschige Putengeschnetzelte, das im Willy-Brandt-Haus bei der SPD serviert wurde, sagt ein Teilnehmer, sei der absolute Tiefpunkt der Koalitionsverhandlungen gewesen. Zumindest kulinarisch.