Ulli Wegner weiß genau, worauf es ankommt, wenn die Glocke die letzte Runde eines Boxkampfes einläutet. „Man muss physisch und psychisch fit sein“, sagt der erfahrene Boxtrainer, der einst selber im Ring stand und als Trainer Sven Ottke, Arthur Abraham oder Marco Huck zu Weltmeistern machte. Vor allem aber gelte es, Ruhe zu bewahren, die Übersicht nicht zu verlieren, sich nicht provozieren zu lassen und unbeirrt an der eigenen Taktik festzuhalten.
Ulli Wegner steht an diesem kalten Septemberabend nicht im Ring, sondern auf einer Bühne am Rande des Potsdamer Bassinplatzes, gleich hinter dem hübschen Holländischen Viertel. Von der Moderatorin auf der Bühne, auf der gleich Bundeskanzlerin Angela Merkel zu den Potsdamern sprechen wird, wird er in seiner Eigenschaft als Boxtrainer wie auch als CDU-Mitglied und Kommunalpolitiker befragt. Schließlich sind die Parallelen zwischen der Welt des Sports und der Politik nicht zu übersehen.
Mit der Wahl in Bayern am vergangenen Sonntag war die letzte Runde des Bundestagswahlkampfes eingeläutet worden – nach einem langen Fight naht der Moment der Entscheidung, die Kontrahenten geben alles, um dem Gegner den entscheidenden Schlag zu verpassen.
Mit seiner Parteichefin und Kanzlerin Angela Merkel könnte der 71-jährige Wegner zufrieden sein. Auch wenn sie seine Ratschläge nicht hören kann, weil sie erst später unter rhythmischen Fanfarenklängen einzieht, so befolgt sie diese doch. Selbst in der heißen Phase des Wahlkampfes ist sie, wie sie immer ist, ruhig und gelassen, nüchtern, fast schon emotionslos. Von Aufregung keine Spur. Und ihren Herausforderer ignoriert sie komplett, als gäbe es ihn nicht. „Wir stellen uns zur Wahl, damit ich auch in den nächsten vier Jahren Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein darf“, sagt sie zu Beginn ihrer Rede in einem Ton, als sei es ihr fast unangenehm, für sich selber zu werben. Weshalb sie sich im gleichen Atemzug direkt an die Bürger wendet: „Aber es geht nicht um mich, sondern um Sie. Sie entscheiden, wie sich ihr eigenes Leben in den nächsten vier Jahren gestaltet.“ Jeder Mensch habe seine eigenen Vorstellungen, Träume und Sorgen. Und sie wolle als Kanzlerin „ein wenig die Richtung mitbestimmen, in die Deutschland in den nächsten vier Jahren geht“. Die letzten vier Jahre seien gut gewesen für Deutschland, nun wolle sie „alles daran setzen, dass wir noch weitere vier gute Jahre haben“.
Seit 23 Jahren ist Angela Merkel in der Bundespolitik aktiv, seit 13 Jahren steht sie an der Spitze der CDU, seit acht Jahren ist sie Bundeskanzlerin. Nie verliert sie die Kontrolle, einen Wutausbruch hat noch niemand erlebt, ihr würde es auch nicht passieren, den Stinkefinger zu zeigen. Doch wer Angela Merkel wirklich ist, was sie denkt und bewegt, ist auch nach dieser langen Zeit in der ersten Reihe der Politik wenig bekannt. Lange hat die gebürtige Hamburgerin ihr Privatleben konsequent abgeschottet und nur das Nötigste preisgegeben. Stets bestimmt sie dabei selber, was sie zu offenbaren bereit ist und wie weit sie dabei geht.
Angela Merkel ist die Meisterin der Mimikry. Mit Vorliebe macht sie sich kleiner, unscheinbarer und harmloser – und damit auch unangreifbarer – als sie ist, allzu konkrete Festlegungen scheut sie, um keine Angriffsfläche zu bieten. Ein Erbe ihrer DDR-Biografie. Früh schon hat die Tochter eines protestantischen Pastors, die immer eine argwöhnisch beobachtete Außenseiterin war, gelernt, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne aufzufallen oder gar anzuecken.
Auch als Kanzlerin ist sie diesem Prinzip treu geblieben und hat sich in der Öffentlichkeit weitestgehend rar gemacht, große Auftritte sind ihre Sache nicht, der Wahlkampf erst recht nicht. Kurz nur winkt sie beim Einzug auf dem Potsdamer Bassinplatz ins Publikum und schüttelt ein paar Hände, mehr Dialog mit dem Bürger muss nicht sein. Am liebsten regiert sie aus dem Hintergrund per SMS. Ihre Kurzbotschaften, gezeichnet mit dem Kürzel AM, sind legendär.
In der Partei ist sie die unbestrittene Nummer eins, niemand stellt ihre Position infrage, in den Spitzengremien der CDU muss sie nicht mehr um ihre Positionen kämpfen, im Präsidium wie im Bundesvorstand teilt sie nur noch ihre Beschlüsse mit.
Und das, obwohl sie in den letzten vier Jahren ein Bundesland nach dem anderen verloren hat, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Hamburg, dazu Großstädte wie Frankfurt und Stuttgart.
Doch in der Union ist niemand in Sicht, der ihr noch gefährlich werden und ihren Machtanspruch infrage stellen könnte. Ihre Konkurrenten und Rivalen hat sie alle ausgesessen oder auflaufen lassen, ausgebremst oder kaltgestellt – und dies als Außenseiterin aus dem Osten, ohne eigene Hausmacht oder starke Seilschaft. „Sie ist die Jägermeisterin im Erlegen eitler Männer“, hat der frühere CSU-Landesgruppenchef und Wirtschaftsminister Michael Glos einmal voller Bewunderung wie Verblüffung über sie gesagt, „ihre Trophäenwand ist gut bestückt“.
Die eiskalte Entlassung ihres Umweltministers Norbert Röttgen im Juni letzten Jahres war eine an Deutlichkeit nicht mehr zu überbietende Botschaft an alle Parteifreunde – wer nicht spurt, der fliegt. Röttgen, der glaubte, als stellvertretender Parteichef und Vorsitzender des größten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen unantastbar zu sein, hatte sich in kleinen Kreisen mehrfach kritisch über seine Chefin geäußert. Nach seiner klaren Niederlage bei der Landtagswahl in NRW zögerte die Kanzlerin keine Minute und setzte ihn vor die Tür. Seitdem herrscht Ruhe in der Partei.
Auch als Politikerin ist Merkel, die einst in der Abteilung für theoretische Chemie an der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeitete, im Grunde eine Naturwissenschaftlerin geblieben, die einen ebenso schlichten wie pragmatischen Ansatz verfolgt: Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Es sei das Faszinierende und Spannende an ihrem Beruf, bekannte sie in diesem Sommer, dass sie immer wieder mit neuen Fragestellungen, Herausforderungen oder Problemen konfrontiert werde, für die es Lösungen zu finden gelte. Allzu viel Ideologie stört dabei allerdings nur.
So konnte Merkel, die die Schlachten der alten Bundesrepublik nicht geschlagen hat, problemlos den programmatischen Ballast über Bord werfen und die Union auf einen neuen Kurs trimmen: Ausstieg aus der Atomenergie, Abschaffung der Wehrpflicht, Krippenplätze für Kleinkinder, Ganztagesbetreuung, Frauenquote, nun auch noch Lohnuntergrenzen und Mietpreisbremse. Und die Partei folgt ihr, nicht immer begeistert, manchmal nur widerwillig, aber sich am Ende doch fügend. Denn bei den Menschen kommt die Kanzlerin mit ihrer pragmatischen, unaufgeregten, zurückhaltenden Art an. Sie vermittelt Ruhe und Sicherheit in unübersichtlichen und bewegten Zeiten. So ist Merkel, die von Parteifreunden schon früh den Spitznamen „Mutti“ erhielt, tatsächlich so eine Art Mutter der Nation geworden, manchmal fordernd, manchmal fürsorglich, ein bisschen autoritär, aber auch großzügig. Oft wird ihr vorgeworfen, keine Vision, keine politische Agenda, keine Ziele zu haben, doch das greift zu kurz. Als DDR-Bürgerin erlebte sie, wie ihr eigener Staat unterging, weil er sich den nötigen Reformen und Veränderungen verweigerte. Sie will, dass sich so etwas nie mehr wiederholt.
Deutschland, sagt Merkel täglich zwei Mal bei ihren fast 60 Wahlkampfauftritten in diesen Tagen, sei mit 80 Millionen Einwohnern ein großes Land, aber doch stelle es nicht einmal ein Prozent der Weltbevölkerung. Die EU komme mit ihren 500 Millionen Einwohnern auf sieben Prozent. Diese sieben Prozent würden immerhin 25 Prozent der Waren herstellen, gleichzeitig aber 50 Prozent der Sozialleistungen der Welt ausgeben. „Damit wir uns das leisten können, müssen wir gut sein, wettbewerbsfähig sein, deswegen mühen wir uns, dass wir wettbewerbsfähig bleiben.“
Die Zeiten allerdings, in denen die Reformerin von Leipzig dem Land eine Radikalkur verordnen und alles in Bausch und Bogen umkrempeln wollte, sind längst vorbei. Merkel hat ihre Lektion des Jahres 2005 gelernt, als sie als haushohe Favoritin ins Rennen ging und am Ende nur mit einem hauchdünnen Vorsprung ins Ziel kam. In ihrer gut 30-minütigen Wahlkampfrede verbreitet sie viel Optimismus und gute Laune, von Zumutungen und Belastungen dagegen ist keine Rede mehr. Fast schon bescheiden bittet sie um Zustimmung zu ihrer Politik. „Ich würde mich freuen, wenn wir am Sonntag zusammenkommen.“
Mit dem Slogan „Zwei Stimmen, vier Jahre“ bewirbt sie sich offiziell für die gesamte Amtszeit. Doch in Berlin halten sich hartnäckig die Gerüchte, dass dies der letzte Wahlkampf der Angela Merkel ist und sie spätestens in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode das Amt niederlegt. Sie wäre dann 61, zehn Jahre Regierungschefin und ein Vierteljahrhundert in der ersten Reihe der Politik aktiv. Zuzutrauen wäre ihr dies. Noch nie ist es einem Kanzler gelungen, aus freien Stücken und in Ehren aus dem Amt zu scheiden, Ulli Wegner, der einst 176 Boxkämpfe bestritten hat, würde dies gefallen. Auch ein guter Boxer weiß, wann es Zeit ist, den Ring zu verlassen, bevor man k. o. geht.
Angela Merkel
Als Tochter eines evangelischen Pastors wurde Angela Dorothea Kasner am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren. Ihr Vater, Pastor Horst Kasner, und ihre Mutter Herlind, Lehrerin für Latein und Englisch, ziehen wenige Wochen nach ihrer Geburt in die DDR. Sie hat einen Bruder und eine Schwester und ist in zweiter Ehe mit Joachim Sauer verheiratet.
Nach dem Abitur in Templin studiert sie von 1973 bis 1978 in Leipzig Physik, danach wechselt sie an das Zentralinstitut für physikalische Chemie an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ost-Berlin, wo sie promoviert.
Im Wendeherbst 1989 schließt sie sich dem „Demokratischen Aufbruch“ (DA) an, nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 wird sie stellvertretende Regierungssprecherin.
Am 2. Dezember 1990, bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, gewinnt sie ein Direktmandat im Wahlkreis Stralsund-Rügen, das sie seitdem erfolgreich verteidigt hat. Von 1991 bis 1994 ist sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin unter Helmut Kohl.
Nach der Wahlniederlage 1998 kürt der neue CDU-Chef Wolfgang Schäuble sie zur CDU-Generalsekretärin. Als Schäuble im Februar 2000 auf dem Höhepunkt der CDU-Parteispendenaffäre zurücktritt, wird Merkel zur neuen CDU-Vorsitzenden gewählt.
Nach dem knappen Wahlsieg bei der Bundestagswahl 2005 wird sie am 22. November 2005 zur ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Vier Jahre regiert sie mit der SPD, seit 2009 mit der FDP.