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MÜNCHEN
„Die Justiz wurde kaputtgespart“
Das Gespräch führte Holger Sabinsky-Wolf
 |  aktualisiert: 14.04.2017 03:35 Uhr

Die Justiz in Deutschland ist massiv überlastet. Sie leidet unter Personalnot und teils mangelhafter technischer Ausstattung. Das kritisiert Andrea Titz, Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins, gegenüber dieser Redaktion. Eine Zeit lang sei die Justiz vernachlässigt worden. Die Überlastung trifft insbesondere die Strafjustiz. Rund 3,5 Millionen Straftaten, die jedes Jahr von der Polizei aufgeklärt werden, stehen zum Beispiel bundesweit 5200 Staatsanwälte gegenüber – ein grobes Missverhältnis.

Frage: Frau Titz, ist die deutsche Justiz überlastet?

Andrea Titz: Ja. Die offiziell ermittelten Zahlen zeigen eindeutig, dass in Deutschland circa 2000 Richter und Staatsanwälte fehlen. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten jenseits der Belastungsgrenze. Mehr geht nicht.

Wie konnte es zu dieser dramatischen Situation kommen?

Titz: Das hat mehrere Gründe. Erstens ist die Justiz in vielen Bundesländern über viele Jahre hinweg kaputtgespart worden. Denn die Politik hat offenbar vielerorts den Wert einer funktionierenden Justiz verkannt. Und zweitens kommen immer neue Aufgaben auf uns zu. Nehmen sie nur die Internet- und Computerkriminalität. Oder die Bedrohung durch Terroristen. Die nationale Sicherheit Deutschlands ist bedroht wie selten zuvor. In dieser Situation ist der Ruf nach der Justiz sehr laut.

Ist die Lage in Bayern auch so prekär?

Titz: In Bayern haben wir in den vergangenen Jahren viele Richter- und Staatsanwaltsstellen bekommen. Das muss man fairerweise sagen. Dennoch bleibt festzuhalten: Auch im Freistaat fehlen mehrere hundert Stellen.

Den rund 3,5 Millionen Straftaten, die von der Polizei jährlich geklärt werden, stehen bundesweit 5200 Staatsanwälte entgegen. Ist das ein günstiges Verhältnis?

Titz: Nein. Und die Schieflage wird noch größer werden, weil Bund und Länder die Polizei massiv aufgestockt haben. Mehr Polizisten bedeuten mehr Verfahren. Dann wird die Strafjustiz zum Flaschenhals.

Und im schlimmsten Fall müssen Gefangene dann aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil das Verfahren zu lange dauert ...

Titz: Das sind Einzelfälle, aber sie kommen vor, und das ist nicht akzeptabel.

Auch die Dauer der Verfahren an Landgerichten ist spürbar gestiegen. Lag sie 2005 noch bei 3,2 Verhandlungstagen, betrug sie 2015 schon 4,3 Tage. Auch eine Folge des Personalmangels?

Titz: Der Durchschnitt ist in Deutschland noch recht gut, vor allem, wenn man ihn mit anderen Ländern vergleicht. Aber es gibt zu viele Verfahren, die zu lange dauern. Das liegt aber nicht nur am Personalmangel, sondern auch an der höheren Komplexität der Verfahren. Für ein Wirtschaftsstrafverfahren brauchen sie heute hoch spezialisierte Fachleute. Da steht schnell ein Staatsanwalt einer Armada von 20 Fachanwälten gegenüber. Da kommen wir an Grenzen. Und dann steigt die Neigung zu Verfahrensabsprachen.

Haben wir da etwa ein Gerechtigkeitsproblem in Deutschland?

Titz: Ich sehe keine Instabilität des Rechtsstaats, wenn Sie das meinen. Die Justiz ist an ihrer Belastungsgrenze, aber sie funktioniert. Allerdings ist sie auf das Vertrauen und die Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen. Und da sehe ich, dass die Skepsis wächst, ob die Justiz den neuen Formen der Kriminalität noch Herr werden kann.

Ist unser Rechtsstaat also überfordert, zum Beispiel mit dem Internet?

Titz: Die Justiz hat Probleme, Schritt zu halten. Das liegt an der technischen Ausstattung, die zum Teil veraltet ist. Und es liegt an Gesetzen, die oft nicht passgenau sind.

Welche zum Beispiel?

Titz: Ach, nehmen Sie nur den Klassiker der Vorratsdatenspeicherung. Polizei und Justizbehörden brauchen die dringend. Wir wissen, dass wir damit keine Straftaten verhindern können. Aber diese Daten würden es enorm erleichtern, Straftaten aufzuklären. Und da darf es einfach keine Denkverbote aus ideologischen Gründen geben.

Der Richter- und Staatsanwaltstag in Weimar beschäftigt sich bezeichnenderweise mit dem Schwerpunktthema „Der gläserne Mensch“, also mit Problemen der Digitalisierung und der Internet-Welt.

Titz: Ja, das Themenfeld ist für Richter und Staatsanwälte eben eine der größten Herausforderungen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass der massive Personalmangel in der Justiz behoben wird?

Titz: Ich glaube, mit den neuen Bedrohungen steigt die Wertschätzung für die Justiz. Man will ja auch, dass Terroristen schnell abgeurteilt werden. Allerdings wurden über einen zu langen Zeitraum Strukturen zusammengestrichen. Das lässt sich nicht von heute auf morgen beheben.

Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem juristischen Nachwuchs?

Titz: Die Justiz war immer stolz darauf, nur die besten Juristen zu beschäftigen. Aber was hat sie heute noch zu bieten außer einem sicheren Job? Die Arbeitsbelastung ist sehr hoch, große Wirtschaftskanzleien zahlen viel höhere Einstiegsgehälter. Die Top-Juristen haben nicht mehr alle Lust, ihre Zeit in einem muffigen Büro eines uralten Gerichtsgebäudes zu verbringen. Wir müssen attraktiv bleiben. Da gibt es Nachholbedarf. In Bayern hat die Justiz zum Glück noch keine Nachwuchsprobleme, in anderen Ländern wie in Nordrhein-Westfalen aber sehr wohl.

Zur Person

Andrea Titz, 47, ist Richterin am Oberlandesgericht (OLG) München. Bekannt wurde sie durch ihre Aufgabe als Pressesprecherin des OLG: Sie informierte Medien in spektakulären Verfahren wie gegen Uli Hoeneß, Bernie Ecclestone und Beate Zschäpe. Neben ihrem juristischen Sachverstand sorgte sie mit ihrem eleganten, bisweilen extravaganten Kleidungsstil für Aufsehen. Für den Deutschen Richterbund, dessen stellvertretende Vorsitzende Titz lange war, hat sie den derzeit in Weimar stattfindenden Richter- und Staatsanwaltstag organisiert. Seit Ende des vergangenen Jahres leitet sie den Bayerischen Richterverein, mit 2400 Mitgliedern der größte Berufsverband der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Bayern. Hogs/FOTO: dpa
 
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