Dieser Interviewverlauf war so offenbar nicht geplant, auch nicht initiiert. Vielleicht war es eine Sternstunde des Fernsehens, wie teilweise kommentiert wird. In diversen Blogs ist zu lesen, dass endlich einmal einer Tacheles geredet habe, dass endlich einmal nicht das übliche Politikgeschwurbel zu hören gewesen sei, sondern ehrliche Antworten eines ehrlichen Mannes mit Namen Horst. Einer wie Horst Schimanski, der Tatortkommissar aus dem Ruhrpott, eine ehrliche Haut, die sich tierisch aufregen und ebenso tierisch hinlangen kann, verbal wie körperlich? Ist der, der mit Schimanski den Vornamen gemein hat, ist der mit dem Currywurst liebenden Haudrauf aus Duisburg zu vergleichen? Und so sympathisch?
Heinrich Obereuter ist Politikwissenschaftler, er lehrte an der Universität Passau. Kaum einer seiner Zunft ist so oft gefragt worden, wenn es um die CSU und ihre Strategen ging. Oberreuter gilt seit Jahrzehnten als Kenner der Partei, ist selbst langjähriges Mitglied – immer in der kritischen Distanz des Wissenschaftlers. Ob man Horst Seehofer einen unberechenbaren Querschläger nennen könne, wurde er zu Jahresbeginn von einem Interviewer gefragt, oder stecke hinter seinen gelegentlichen Attacken gegen Feind und Freund eine politische Strategie? Obereuter verwies in seiner Antwort auf das Motto der CSU beim letzten Parteitag: „Bayern zuerst“. Übersetzt in Parteipolitik heiße das: die CSU zuerst. Je mehr es der CSU gelinge, sich als eigenständige Partei zu profilieren, desto besser. Das Ritual der politischen Zuspitzung seitens der CSU funktioniere noch immer recht gut, sagt Oberreuter – erstaunlich gut. Horst Seehofer muss das verinnerlicht haben.
Halbleib: „Ziemlich unsportlich“
Da schau hin – der Horst! Nicht nur Claus Kleber vom ZDF wünscht sich so jemanden als Interviewpartner. Bei Medienleuten verschafft ein Satz wie dieser Respekt: „Sie können das alles senden, was ich gesagt hab'!“ Und das Volk erst. Das freut sich. Endlich mal einer, der sagt, was er denkt. Dabei ist Horst Seehofer längst nicht der Einzige, der so agiert. Der Politrebell ist salonfähig geworden. Das ist vor allem bei der Partei zu beobachten, die weit abgesackt ist in der Gunst der Wähler, die Liberalen. Wolfgang Kubicki und Christian Lindner haben offen gegen das dröge FDP-Establishment gemeutert – und konnten schnelle Erfolge feiern.
Aus der Not wächst neue Kraft, das gilt auch für den christsozialen Landesvater Horst Seehofer. Seine Verärgerung vor ZDF-Mikrofonen und -Kameras und schließlich sein spontanes oder wenigstens spontan wirkendes Okay zur Veröffentlichung kann als Signal für den wirklichen Zustand innerhalb der Regierungskoalition gedeutet werden. Als Schlitzohrigkeit auch. Jedenfalls zeigt Seehofers Auftritt dessen Talent, blitzartig zwischen Programmatik, Pragmatismus und Populismus zu wechseln. Ein Talent, das er im ZDF-Interview genutzt hat, um „ziemlich unsportlich“ nachzutreten gegen das am Boden liegende Regierungsmitglied Norbert Röttgen (CDU), sagt Volkmar Halbleib, stellvertretender Chef der SPD-Fraktion im Landtag aus Ochsenfurt. Dass Seehofer sich gerne auf Kosten anderer profiliert, das sei auch in den Reihen der CSU gefürchtet, fügt Halbleib hinzu. Und habe schon zu personellen Konsequenzen geführt, wie im Fall des früheren bayerischen Finanzministers Georg Fahrenschon.
Für den Sozialpsychologen Professor Fritz Strack von der Universität Würzburg kommt in dem Nachspiel klar zum Ausdruck, „dass sich Seehofer über Röttgen geärgert hat. Für ihn hat Röttgen nicht den Einsatz gezeigt, den er von einem Spitzenkandidaten erwartet“. Ob Kalkül hinter den Aussagen gestanden habe? „Es ist ihm wahrscheinlich nicht entgangen, dass die Kamera noch lief. Von daher war es aus seiner Sicht sicher kein vertrauliches Hintergrundgespräch, sondern eine Meinungsäußerung, die man noch verwenden kann“, so Strack.
Dass mediale Aufmerksamkeit in der heutigen Zeit wenig ist, ist auch Patrick Friedl bewusst, Stadtrat und Repräsentant der Würzburger Grünen. Friedl hat Seehofer als „sehr kontrolliert“ wahrgenommen, er habe seine Worte „mit Bedacht“ gewählt. Dessen Okay zur Veröffentlichung schien spontan, aber eben mit der Spontaneität des Politprofis: „Natürlich ging es ihm darum, in die Schlagzeilen zu kommen.“
Fernsehen hat Politik verändert
Etwas anders sieht das Professor Frank Schwab, Medienpsychologe an der Universität Würzburg. Für ihn haben sich vor allem Gestik und Mimik bei Seehofer während des Interviews verändert. Im ersten Teil habe er „sehr kontrolliert, sehr staatstragend gewirkt“, er sei sich bewusst gewesen, dass er mit der Öffentlichkeit kommuniziere. Als er sich mit Moderator Kleber alleine wähnte, „wirkte er authentischer, die Sprache wurde flapsiger, er zeigte mehr Körperbewegung“. Dieser Wechsel zeige, wie sich Politiker in der Öffentlichkeit inszenieren. „Urgesteine wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß, die oft sehr emotional agiert haben, die gibt es ja fast nicht mehr.“ Die aktuelle Generation der Politelite sei erzogen durch Medienberater. Spätestens seit der „great debate“, dem ersten großen Fernsehduell in der Geschichte zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten Richard M. Nixon und John F. Kennedy 1960 in den USA, sei der Einfluss der bewegten Bilder bekannt, so Schwab. Damals setzte sich der junge, dynamische Kennedy durch.
Seitdem inszenieren sich Politiker. „Durchs Fernsehen“, sagt Schwab, „hat sich die Politik stark verändert“. Es würden in erster Linie Köpfe gewählt: „Das zeigten erst jüngst die Erfolge der FDP-Politiker Kubicki und Lindner. Müsste rein das Parteiprogramm gewählt werden . . .“
Dass sich Politiker in der Öffentlichkeit anders verhalten, ist nicht neu. Auch diese Zeitung muss die meisten Gespräche vor einer Veröffentlichung autorisieren lassen, eine Praxis, bei der die fertig geschriebenen Interviews noch einmal zum Gegenlesen an den Politiker oder seinen Pressesprecher geschickt werden. Nicht selten kommen Antworten stark verändert zurück.
Nicht nur Politiker pochen auf das Gegenlesen, längst ist dies auch zur fragwürdigen Sitte geworden bei Fußball-Nationalspielern wie Philipp Lahm, Schauspielern wie Rufus Beck oder auch bei Journalisten, die durch das Medium TV selbst zu etwas Ruhm gekommen sind wie Moderator Reinhold Beckmann. „Interviews“, sagt Professor Strack, „haben natürlich immer ein strategisches Element, aber die Person gibt sich doch ein Stück weit zu erkennen.“
Das Interview
Horst Seehofer läuft zur Hochform auf, als das Interview mit Moderator Claus Kleber vom „heute journal“ des ZDF beendet ist. Im eigentlich nichtöffentlichen Nachgespräch ledert er gegen die schwarz-gelbe Politik und Norbert Röttgen. Am Ende lacht Seehofer wie befreit: „Sie können das alles senden. Machen's a Sondersendung. Also servus.“ Er sei es leid, schlechte Wahlergebnisse schönzureden, poltert er im Hinblick auf das NRW-Ergebnis: „Das war ein Desaster gestern.“ Und redet sich in Rage: „Ich bin nicht mehr bereit, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Wir müssen besser werden, auch in Berlin.“ Röttgens „ganz großer Fehler“ sei gewesen, dass er sich einen Notausgang nach Berlin offengehalten habe. Zur Politikverdrossenheit habe Röttgen beigetragen, höhnt Seehofer, indem er den Wählern signalisiert habe: „Ich laufe nicht davon, ich laufe gar nicht hin.“ In Röttgens Wahlkampf seien die Umfragewerte der CDU geschmolzen „wie ein Eisbecher, der in der Sonne steht“.
ONLINE-TIPP
Das YouTube-Video des Interviews: www.mainpost.de/zeitgeschehen