Es war eine makabre Inszenierung“ – mit diesen Worten beschrieb ein Polizist, was die Ermittler am Freitagvormittag bei einer Gasfabrik des US-Unternehmens Air Products in Saint-Quentin-Fallvier, einem Städtchen südlich von Lyon, vorfanden. An einem Zaun hing der abgetrennte Kopf eines Mannes, versehen mit arabischen Aufschriften, neben einer islamistischen Fahne. Etwas entfernt davon lag sein restlicher Körper.
Bisher kannte man solche Szenen von unfassbarer Brutalität nur aus Videos der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Nun wurde erstmals ein Mensch auf französischem Boden enthauptet. Offenbar handelte es sich bei dem Todesopfer nicht um einen Mitarbeiter der Firma, die auf die Herstellung von Gasprodukten für die Industrie und den medizinischen Gebrauch spezialisiert ist, sondern einen Unternehmer aus der Umgebung von Lyon, der diese belieferte. Der Tageszeitung „Le Parisien“ zufolge soll er der Chef des mutmaßlichen Täters Yassin S. gewesen sein. Der 35-jährige S. wohnt in der Nähe von Lyon und arbeitete seit April für die Firma.
Mehrere Gasbehälter gerammt
Bisherigen Erkenntnissen zufolge fuhren beide gemeinsam in einem Lieferwagen in das Gelände, für das er eine Einfuhrerlaubnis besaß. Ob der Chef zu diesem Zeitpunkt noch lebte, erscheint unklar. Denn schließlich stieg S. mit dem Kopf seines getöteten Chefs aus dem Wagen, den er an einem Zaunpfeiler anbrachte. Auch dessen Körper holte er aus dem Kleintransporter. Anschließend rammte er mit diesem offenbar absichtlich mehrere Gasbehälter. Zeugen sprachen von einer gewaltigen Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden verletzt. Nach dem Vorfall wurde die Gegend um das Werk, ein großes Industriegebiet, geräumt und die rund 40 Angestellten der Fabrik evakuiert.
Einer Auswertung der Video-Überwachungskameras zufolge wurde ein erstes Team an eilig herbeigerufenen Feuerwehrmännern vom mutmaßlichen Täter mit dem Ruf „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) empfangen. Einer der Feuerwehrleute rang mit ihm und konnte ihn festhalten, bis die Polizei eintraf und ihn in Gewahrsam nahm.
Festgenommen und verhört wurden außerdem seine Schwester sowie seine Frau, die Mutter dreier gemeinsamer Kinder. „Er ist heute Morgen um sieben Uhr zur Arbeit gegangen. Er macht Lieferungen“, wird ihre Aussage vor der Polizei in der Zeitung „Le Parisien“ zitiert. Als sie von dem furchtbaren Verdacht erfahren habe, sei ihr Herz stehengeblieben: „Ich kenne ihn doch, er ist mein Mann. Wir führen ein normales Familienleben. Wir sind normale Muslime.“ Ein Nachbar beschrieb S. als unauffällig und zurückhaltend.
Innenminister Cazeneuve zufolge fiel der junge Mann dem französischen Inlandsgeheimdienst bereits 2006 auf wegen islamistischer Radikalisierung und Nähe zu salafistischen Bewegungen. Er wurde damals in einer Antiterror-Kartei erfasst, zwei Jahre später aber wieder gestrichen. Reisen nach Syrien oder in den Irak seien nicht bekannt, er hatte ein leeres Strafregister. Nachbarn beschreiben ihn als verschwiegen und unauffällig.
Unklar ist noch die Rolle eines zweiten Mannes und mutmaßlichen Komplizen, der im Anschluss festgenommen wurde. Berichten zufolge wird er verdächtigt, im Vorfeld der Tat das Firmengelände mehrmals umkreist zu haben. Die für Terrorismusbekämpfung zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft von Paris leitete Ermittlungen wegen bandenmäßigen Mordes und Mordversuchs durch eine terroristische Vereinigung ein. Doch Cazeneuve warnte vor voreiligen Schlussfolgerungen.
Höchste Sicherheitsstufe
Präsident François Hollande, der sich zum Zeitpunkt des Geschehens auf dem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel befand, sprach von einer „Attacke terroristischer Natur“ und berief die Zusammenkunft eines Verteidigungsrates in Paris ein. „In diesem Moment geht es zuerst darum, den Opfern unser Mitgefühl auszusprechen“, sagte Hollande. „Aber das kann nicht die einzige Antwort sein. Die Antwort besteht in Handlungen. Die Angst darf niemals die Oberhand gewinnen.“ Premierminister Manuel Valls versprach von Südamerika aus „erhöhte Wachsamkeit“ für alle Sicherheitsbehörden in der betroffenen Region Rhône-Alpes. Dort gilt drei Tage lange die höchste Terror-Warnstufe. „Diese Attacke beweist, dass die dschihadistische Bedrohung extrem hoch bleibt.“
Seit den terroristischen Anschlägen im Januar auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris mit insgesamt 20 Toten, darunter den drei Angreifern, herrscht in Frankreich permanent die höchste Sicherheitsstufe. Nun, nicht einmal ein halbes Jahr nach den Geschehnissen, die das Land beispiellos erschüttert haben, wurde es erneut Ziel einer islamistischen Attacke.