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MOSKAU
Die Frauen von „Pussy Riot“ geben sich kämpferisch
Evangelischer Pressedienst
 |  aktualisiert: 11.12.2019 15:23 Uhr

Nach dem Abgang Michail Chodorkowskis von der Bühne der Kremlgegner in Russland treten nun die Frauen der Punkband Pussy Riot ins Scheinwerferlicht. Keine Emigration und erst recht keine Kapitulation vor Kremlchef Wladimir Putin – das sind die Botschaften von Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina. Als die beiden Frauen am Montag nach mehr als 20 Monaten in Haft im Zuge einer Amnestie ihre Straflager verlassen, sind sie kämpferisch gestimmt.

„Mit meiner Entlassung fängt alles erst an, weil die Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit sehr eng ist in Russland, in diesem autoritären Staat“, sagt die 24 Jahre alte Tolokonnikowa. Es ist bitterkalt – um die minus 28 Grad, berichteten die Wartenden beim Kurznachrichtendienst Twitter, als die Wortführerin der Band Pussy Riot perfekt gestylt ins abendliche Scheinwerferlicht tritt.

Ihre zuvor schon an der Wolga aus dem Straflager entlassene Bandkollegin Aljochina zeigt sich ebenfalls ungebrochen. Die beiden Frauen telefonieren. Es ist das erste Gespräch, seit sie im August vorigen Jahres zu zwei Jahren Straflager verurteilt wurden. Die Band hatte ein Punkgebet in einer Kirche gegen Putin aufgeführt.

Und zumindest Aljochina sagt, dass sie es wieder tun würde – und überhaupt auf Putins Amnestie pfeife und bis zum regulären Haftende Anfang März auch noch durchgehalten hätte. Die beiden vereinbaren, dass sie sich für andere Gefangene einsetzen und den „blutigen Alltag“ sowie die vielfach verbreitete Folter in den noch sowjetisch geprägten Straflagern bekämpfen wollten. Das ist ein Ziel, das sie mit Chodorkowski – dem bis Freitag berühmtesten politischen Gefangenen des Landes – gemeinsam haben.

Auch der 50-Jährige will sich für die Freiheit von „Putins Geiseln“, wie er sie nennt, einsetzen. Die für ihn vorgesehene Rolle als führender Kopf der gespaltenen Protestbewegung lehnt er aber ab. Nicht wenige in Russland hatten darauf gehofft, dass Chodorkowski im kommenden August als Held und unanfechtbare moralische Instanz das Straflager verlassen würde. „Ich gebe Chodorkowski keine Schuld. Aber das ist eine Kapitulation. Mit einer Entscheidung, nach Berlin zu fliegen, hat er seine Autorität, die er zehn Jahre lang aufgebaut hat, zerstört. Das ist eine Flucht“, meint der prominente Oppositionspolitiker und Skandalautor Eduard Limonow.

Nach seiner Ankunft in Berlin hatte Chodorkowski erklärt, dass er kein Geld habe, um als Sponsor die Opposition zu unterstützen. Die Finanzen reichten zum Leben, mehr nicht. Das Wichtigste sei jetzt erst einmal seine wiedergewonnene Freiheit – nach zehn Jahren mit der Familie vereint. Verstehen könne das nur, wer dasselbe durchgemacht habe. Der einst reichste Russe und Chef des inzwischen zerschlagenen Ölkonzerns Yukos ließ durchblicken, dass eigentlich niemand gegen das Geld und die PR-Maschinerie des Kreml ankommen könne.

Dabei schätzen viele Andersdenkende in Russland Chodorkowskis politische Schriften zur Zukunft des Landes ohne korrupte Machtstrukturen und mit freien Wahlen als wegweisend. Der Kremlgegner und frühere Vizeregierungschef Boris Nemzow hofft, dass Chodorkowski das Internet nutzt, um weiter zumindest mit Worten Akzente zu setzen.

In russischen Kommentaren waren sich viele Experten einig, dass Chodorkowski seine Freiheit von Putin praktisch erkauft habe mit dem Versprechen, Russland zu verlassen, nicht um sein altes Vermögen zu kämpfen und die Finger von politischen Machtspielen zu lassen.

Die markantesten Köpfe der zersplitterten Opposition sind nun aber nicht nur die Frauen von Pussy Riot. Auch der charismatische Moskauer Oppositionsführer Alexej Nawalny hat Putin den Kampf angesagt – und will ihn 2018 bei der Wahl bezwingen. Doch gilt auch Nawalny für Putin nicht als Gefahr. Nach einer auf Bewährung ausgesetzten Verurteilung zu fünf Jahren Straflager wegen Veruntreuung darf der Kremlgegner an keiner Wahl teilnehmen.

Das Urteil

Kaum ein Richterspruch war so umstritten wie das Urteil gegen drei junge Frauen der kremlkritischen Punkband „Pussy Riot“. Die Aktivistinnen hatten am 21. Februar 2012 in der Moskauer Erlöserkathedrale, einem Heiligtum der russisch-orthodoxen Kirche, mit einem „Punk- gebet“ gegen die Wiederwahl von Präsident Wladimir Putin protestiert. Ein Gericht verurteilte daraufhin zwei der Frauen zu je zwei Jahren Lagerhaft und ihre Mitstreiterin zu einer Bewährungsstrafe – wegen Rowdytums aus religiösem Hass. Maria Aljochina, Nadeschda Tolokonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch entschuldigten sich und sagten, ihre Aktion sei politisch gemeint gewesen. Putin aber blieb hart: Die Frauen hätten „bekommen, was sie wollten“. Ein Moskauer Gericht stufte das Punkgebet später als extremistisch ein und verbot es. Der Grund: Die dokumentierten Handlungen könnten Gläubige verletzen. Sie seien außerdem verborgene Aufrufe zu Aufruhr und Ungehorsam. Nachdem Aljochina (25) und Tolokonnikowa (24) ihre Haftstrafe bis auf gut drei Monate verbüßt hatten, rügte das Oberste Gericht Russlands das Urteil wegen schwerer Verstöße. Weder das junge Alter noch weitere strafmildernde Gründe seien berücksichtigt worden. In seinem Urteil habe das Moskauer Stadtgericht außerdem keine Beweise dafür geliefert, dass die Punkband aus religiösem Hass gehandelt habe. Text: dpa

Oligarchen

Großunternehmer aus den Staaten der früheren Sowjetunion, die nach deren Zerfall Milliarden verdienten, werden Oligarchen genannt – wie Kremlkritiker Michail Chodorkowski. Das Wort Oligarchie stammt aus dem Griechischen und bedeutet: „Herrschaft der Wenigen“.

Seit Putin 2000 erstmals Präsident wurde, versucht er, die Macht der unter seinem Vorgänger Boris Jelzin in Schlüsselpositionen der Wirtschaft gelangten Oligarchen zu brechen. Zu denen, die in der „Gründerzeit“ der russischen Wirtschaft einflussreiche Finanz- und Medienkonzerne aufbauten und in Putins Visier gerieten, gehörte eben auch der Öl-Milliardär Michail Chodorkowski. Der Chef des Yukos-Konzerns hatte sich in die Politik eingemischt und war in Opposition zum Kreml gegangen. Schon vor ihm war 2003 sein Geschäftspartner Platon Lebedew festgenommen worden. Er sitzt bis heute in Haft. Die meisten Oligarchen haben sich mit dem Kreml arrangiert – wie etwa Roman Abramowitsch, im Westen als Eigentümer des britischen Fußballclubs FC Chelsea bekannt. Sein Vermögen schätzt das Magazin „Forbes“ auf 10,2 Milliarden US-Dollar (rund 7,5 Milliarden Euro). Text: dpa

„Pussy Riot“ in Freiheit: Nadeschda Tolokonnikova (links) und Maria Aljochina.
Foto: dpa/afp | „Pussy Riot“ in Freiheit: Nadeschda Tolokonnikova (links) und Maria Aljochina.
 
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