Wenn Sofian irgendwann im Laufe des 22. April eine Wahlkabine betritt, wird er seine Stimme nur einer Person zuliebe abgeben: seiner Mutter. Die Frau, die vor mehr als drei Jahrzehnten aus Algerien nach Frankreich kam, aber anders als ihre Kinder nie die französische Nationalität erhalten hat. Wählen zu gehen, das sei er ihr schuldig, sagt Sofian. Für welchen Kandidaten er aber votieren wird, weiß er nicht. „Wahrscheinlich bleibt der Zettel weiß.“
Es ist Freitagnachmittag in La Courneuve. Der 27-jährige Sofian, zurzeit ohne Job, steht mit seinen Kumpels vor einem Café und raucht. Sie sind ebenso arbeitslos und resigniert wie er. „Wir fühlen uns von dieser Wahl nicht betroffen“, sagt Karim. Die Politiker seien doch alle korrupt und abgehoben. „Paris, das ist eine andere Welt.“
Die französische Hauptstadt liegt nur ein paar Kilometer entfernt; doch La Courneuve gehört bereits zum verrufenen Département Nummer 93. Der Bezirk versammelt mehrere soziale Brennpunkte, die Banlieues, berühmt-berüchtigt spätestens seit den gewaltsamen Unruhen im Herbst 2005 und 2007.
In tristen Wohngebirgen leben überwiegend Zuwanderer, ihre Kinder und Enkelkinder, die längst Franzosen sind – auf dem Pass. Doch die Diskriminierung beginnt schon beim Vorstellungsgespräch: Ein Karim aus dem Département 93 wird oft von vorneherein aussortiert.
Arbeitslosigkeit, Kriminalität, soziale und geografische Ausgrenzung – gegen diese Probleme hat Nicolas Sarkozy nach seinem Amtsantritt 2007 einen „Plan Hoffnung Banlieue“ verkündet. Davon spricht heute keiner mehr. „Es hat sich nichts geändert. Und es wird sich nie etwas ändern“, sagen Sofian und Karim. Wählen – wen und wozu?
Mit dieser Haltung stehen sie nicht allein: Ausgerechnet bei der „Königin der Wahlen“ droht eine historisch hohe Enthaltung. Mehr als ein Drittel der Franzosen könnte bei der ersten Runde am 22. April der Urne fernbleiben. Dass diese ausgerechnet mitten in die französischen Frühlingsferien fällt, erklärt das nicht. Der Wahlkampf wirkt zäh, von Aufbruchsstimmung keine Spur. „Komische Atmosphäre in einer komischen Kampagne“, notiert die Zeitung „Le Monde“.
Die beiden Favoriten, Sarkozy und der Sozialist François Hollande, brauchen möglichst breite Mehrheiten hinter sich. Beide werben um die Wähler des Zentrumspolitikers François Bayrou, den Sarkozy zum „großen Zusammenschluss für die nationale Einheit“ aufrief. Denn viele Anhänger seines konservativen Regierungslagers hat er verprellt durch eine selbstherrliche Amtsführung, persönliche Patzer und eine enttäuschende Bilanz. Gleichzeitig buhlt er mit einem scharfen Rechtskurs um die Wähler der Rechtspopulistin Marine Le Pen, die vor allem unter den Erstwählern hohe Popularitätswerte erzielt.
Profitiert Hollande vom weit verbreiteten „Anti-Sarkozysmus“, so zweifeln immer noch viele an seiner staatsmännischen Statur. Denn ein Charismatiker, wie ihn die Franzosen stets gerne gewählt haben, wird er nie sein. Lediglich der Linke Jean-Luc Mélenchon reißt mit durch revolutionäre Reden. Doch der „rote Volkstribun“ legt lediglich den Finger in die Wunde.
Meldungen über Massenentlassungen und Standortschließungen drücken die Stimmung, die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent, das Wachstum lahmt. Dass Politiker und Medien seit dem symbolträchtigen Verlust der AAA-Bestnote für die Kreditwürdigkeit reflexhaft das „deutsche Vorbild“ herausstellten, erhöhte das französische Selbstvertrauen nicht, wohl aber den Argwohn gegen diesen streberhaften Nachbarn. Deshalb erklärte Sarkozy an die Adresse der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die aktive Unterstützung angeboten hatte, die Kanzlerin sei eine Freundin, aber die Wahl doch Sache der Franzosen.
Und so dominieren innenpolitische Themen wie die Reform des Führerscheins oder Halal-Gerichte in Schul-Kantinen; die Attentate des radikalen Islamisten Mohamed Merah in Toulouse lenkten die Debatte nur zeitweise auf die innere Sicherheit.
Ein provokanter Artikel in der britischen Zeitschrift „The Economist“ wirkt hingegen wie ein böser Weckruf, der den Kandidaten vorwirft, die wirtschaftlichen Probleme völlig zu vernachlässigen.
Auch das französische Magazin „Le Point“ beklagt, dass in Ländern wie Spanien und Portugal neue Regierungen mit Versprechen von „Schweiß und Tränen“ gewählt wurden, Frankreichs nächster Präsident aber auf der Basis von „einer Lüge, so groß wie unsere Verschuldung“. Und die ist gewaltig.