Madrid, London, zweimal Paris – und jetzt auch Brüssel. Um Berlin hat der Terror bisher einen Bogen gemacht. Aber lebt es sich in Deutschland deshalb sicherer? Hansjörg Geiger, der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz formuliert es im Gespräch mit unserer Zeitung so: „Die Einschläge kommen näher.“
Immer wieder führen die Spuren der selbst ernannten Gotteskrieger auch in die Bundesrepublik, zuletzt die von Salah Abdeslam, dem Drahtzieher der Pariser Anschläge, der unter anderem in Ulm gesichtet worden war. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz tröpfeln fast täglich Hinweise auf einzelne Personen oder mögliche Anschlagspläne herein – damit ein Fußballspiel abgesagt wird wie im November in Hannover oder ein Hauptbahnhof geräumt wie an Silvester in München, brauchen die Sicherheitsbehörden allerdings mehr als einen vagen, nicht näher spezifizierten Verdacht.
Besonders gefährlich sind aus Sicht der Verfassungsschützer drei Personengruppen: Gut 300 Rückkehrer aus dem Syrien-Krieg, die kampferprobt und oft regelrecht verroht sind, Islamisten, die sich in Deutschland im Internet oder einschlägig bekannten Moscheen radikalisiert haben – und die so genannten Hit-Teams. Das sind Kämpfer, die der sogenannte Islamische Staat auf den Weg schickt, um Anschläge zu verüben. So sind mindestens zwei der Attentäter aus Paris als Flüchtlinge getarnt nach Europa gekommen. „Daran zeigt sich, welches Risiko die Kanzlerin eingegangen ist, indem sie Hunderttausende unkontrolliert einreisen ließ“, sagt Experte Geiger. IS-Kämpfer stellten keinen Asylantrag, sondern tauchten unter oder machten sich wie im Herbst von Deutschland aus auf den Weg zu ihrem Ziel – in diesem Fall nach Paris.
„Wir sind auf der Hut“, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. Extremisten, die als besonders gefährlich eingeschätzt werden, stünden rund um die Uhr unter Beobachtung. Die Szenarien für einen Tag wie gestern in Brüssel könnten dabei unterschiedlicher kaum sein. Sie reichen vom fanatisierten Einzeltäter bis zur generalstabsmäßig geplanten Aktion wie in Paris oder 2008 im indischen Mumbai, als die Terroristen nahezu gleichzeitig an zehn so unterschiedlichen Zielen wie dem jüdischen Zentrum, einem Bahnhof und einem Luxushotel ihre Bomben zündeten. Insgesamt kamen so 174 Menschen ums Leben.
Mit Ausnahme der tödlichen Schüsse auf zwei US-Soldaten in Frankfurt im März 2011 sind die Behörden bisher allen Anschlagsplänen auf die Spur gekommen oder hatten wie im Sommer 2006 schlicht und einfach Glück, dass die Sprengsätze der Kofferbomber nicht funktionierten und im Kölner Hauptbahnhof keinen größeren Schaden anrichten konnten.
Die sogenannte Sauerland-Gruppe hoben Ermittler nach Hinweisen der amerikanischen NSA aus. Dabei gelang ihnen ein filmreifer Coup: Schon Wochen vor der Festnahme ersetzten Beamte der Polizei in einer Garage heimlich den größten Teil des gefährlichen Wasserstoffperoxids durch Wasser und machten die vermeintlichen Sprengsätze damit unschädlich. Vor knapp einem Jahr flogen in der Nähe von Frankfurt ein Deutsch-Türke und seine Frau auf, in deren Keller alles gelagert war, was ein Terrorist für einen Anschlag braucht: eine funktionsfähige Rohrbombe, Munition und ein Geschoss für eine Panzerfaust. Offenbar hatte das Paar einen Anschlag auf ein Radrennen geplant. Den entscheidenden Tipp hatte den Behörden damals die Mitarbeiterin eines Baumarktes gegeben, bei der die beiden drei Liter Wasserstoffperoxid gekauft hatten.
Sie wurden es teilweise schon. So hat Innenminister de Maiziere bei der Bundeswehr gerade erst eine eigene Anti-Terror-Einheit aufbauen lassen. Im Auswärtigen Amt wurde nach den Attentaten gestern sofort ein Krisenstab eingerichtet, die Kontrollen an den Grenzen zu den Benelux-Ländern wurden verschärft, die Polizeipräsenz an Flughäfen und Bahnhöfen verstärkt. Beobachtet wird die Lage rund um die Uhr im Terror-Abwehr-Zentrum von Bund und Ländern in einer ehemaligen Kaserne in Berlin. Vom Verfassungsschutz über den Militärischen Abschirmdienst bis zum Bundeskriminalamt arbeiten dort 40 Behörden zusammen, sammeln Informationen und analysieren sie.
Das kommt darauf an, an wem man sich orientiert. Verglichen mit einem „chaotischen Land“ wie Belgien sei die deutsche Sicherheitsarchitektur sehr gut, sagt der ehemalige Verfassungsschützer Geiger. In Frankreich dagegen könnten die Behörden schneller regieren, weil es dort keine 16 Landeskriminalämter und keine 16 Landesämter für Verfassungsschutz gebe und wichtige Informationen früher und zentralisierter zur Verfügung stünden.
„Der Föderalismus ist im Zweifel auch ein Risiko“, sagt Geiger. „Das Hauptrisiko aber sehe ich darin, dass wir im Moment überhaupt nicht wissen, wer sich in unserem Land alles aufhält.“