Im Königreich mag derzeit Urlaubszeit herrschen, doch Ruhe kehrt im politischen Westminster keineswegs ein. Der bevorstehende Brexit bestimmt weiterhin die Schlagzeilen. Seit Wochen wird auf der Insel über mögliche Auswirkungen eines Austritts ohne Abkommen diskutiert.
Es herrscht große Sorge, dass die Schreckensszenarien wahr werden könnten, die regelmäßig aus Regierungskreisen an die Medien durchsickern. So wird angeblich darüber nachgedacht, Lebensmittel und Medikamente auf Vorrat zu lagern, weil Engpässe bei der Anlieferung vom Kontinent befürchtet werden. Das Militär würde Unterstützung leisten, um notwendige Güter in abgelegene Gegenden zu transportieren, hieß es.
Derweil warnen Experten vor einem Mangel an Arbeitskräften und kilometerlangen Staus um Dover, weil das Land nicht rechtzeitig die Infrastruktur für Zollabfertigungen im großen Stil errichten könnte. Zwei Fahrspuren auf der Autobahn von London zur Küste, der M26, sind offenbar bereits als ein kilometerlanger Lkw-Parkplatz vorgesehen. Ohne Notfallpläne würden auch keine Flugzeuge mehr gen Europa abheben. Und das sind nur einige der möglichen Probleme, die auf das Königreich zukommen könnten, wenn am 29. März 2019 der radikale Bruch eintreten sollte.
Während die Brexit-Hardliner von „Angstmacherei“ und „fehlendem Optimismus“ aufseiten der EU-Freunde reden, wirbt die konservative Regierung seit Wochen für den Brexit-Kurs von Premierministerin Theresa May, um den „No-Deal-Brexit“ zu vermeiden. Der Ton aber hat sich merklich geändert, es schwingt Panik in den Drohungen gen Brüssel mit.
Am Wochenende meldete sich Handelsminister Liam Fox zu Wort und warf der EU vor, das Königreich in einen ungeordneten Austritt zu treiben. Die Chancen, dass es eine Scheidung ohne Abkommen gibt, stünden bei 60 zu 40. Es sei die Unnachgiebigkeit der Kommission, die wohl dazu führen würde, dass kein Vertrag zustande komme, sagte der Brexit-Anhänger gegenüber der „Sunday Times“.
Während May sogar noch im vergangenen Jahr meinte, „kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“, wächst nun auf der Insel die Sorge, dass es tatsächlich so weit kommen könnte. Seit zwei Wochen reisen britische Politiker auf den Kontinent, um in bilateralen Gesprächen Vertreter der einzelnen Mitgliedstaaten von Mays Scheidungsvorschlag zu überzeugen – und den Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, zu umgehen. Außenminister Jeremy Hunt weilte in Berlin und Wien zur Charme-Offensive, auch wenn er mehr drohte denn umgarnte und wie seine Kollegen bereits einen Schuldigen ausgemacht hat, sollte es zu einem sogenannten „crash out“ Großbritanniens kommen: die EU.
Brüssel als Sündenbock für Londons Versäumnis, sich auf eine Brexit-Strategie zu einigen – die konservative Presse im Königreich hilft bei diesem Narrativ kräftig mit. Der bisherige Höhepunkt: „Minister warnen Brüssel, dass der Lissabonner Vertrag eine ,besondere Beziehung‘ mit Großbritannien verlangt“, hieß es auf der Titelseite des europaskeptischen „Telegraph“. Der Streit innerhalb der konservativen Partei ist derweil noch immer nicht beigelegt. Kürzlich erst waren der Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson aus Protest gegen Mays Linie zurückgetreten. Ausgerechnet auf dem Kontinent sucht die Regierungschefin nun Unterstützer für ihr Weißbuch.
Vor wenigen Tagen traf Theresa May Emmanuel Macron an der französischen Riviera. Handelte es sich um einen „Hilfeschrei“ der Premierministerin, wie Medien ihren sommerlichen Arbeitsbesuch nannten? Frankreichs Staatspräsident wie auch Kanzlerin Angela Merkel betonten stets, dass die Austrittsverhandlungen von der EU geführt werden. Doch Barnier lehnt den von der britischen Regierung angestrebten Brexit-Kurs ab, nach dem das Königreich eine Freihandelszone für Waren, aber nicht für Dienstleistungen wünscht. Brüssel kritisiert die Pläne aus London als „Rosinenpickerei“.
Auch wenn Diplomaten sowie Regierungsvertreter beider Verhandlungsseiten versichern, ein Vertrag sei das Ziel, steigt mit jedem Tag das Risiko eines „crash out“. „Die Zeit wird knapp“, wiederholt Barnier unaufhörlich. Etliche Unternehmen melden sich mittlerweile lautstark zu Wort und warnen vor einer ungeregelten Scheidung. Notenbankchef Mark Carney sagte, die Möglichkeit, dass es kein Abkommen gebe, sei unangenehm hoch, auch wenn unter den Brexit-Anhängern auf der Insel noch immer die Meinung vorherrscht, dass die Wirtschaft auf dem Kontinent die Staats- und Regierungschefs der EU 27 zu einem für das Königreich vorteilhaften Abkommen drängen wird. Besonders große Hoffnung setzen die Brexiters auf den Druck der mit Großbritannien eng verflochtenen deutschen Autoindustrie.