Angela Merkel hat das Buch nicht nur gelesen, sondern es hat auch einen tiefen und nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlassen. Beim EU-Gipfel Ende Dezember bekannte die Bundeskanzlerin im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs, dass sie bei der Lektüre des Buches „Die Schlafwandler“, der eindrucksvollen Studie des britischen Historikers Christopher Clark über die europäischen Mächte am Vorabend des Ersten Weltkrieges, ähnliche Phänomene erkannt habe wie in der Gegenwart. Alle Bemühungen, die Krise politisch zu lösen, seien damals gescheitert – wie Schlafwandler seien die Mächtigen in ihr Verderben gerannt und hätten den Ersten Weltkrieg ausgelöst.
Von der Krise zum Krieg?
Das war noch vor dem Aufstand in Kiew, vor dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und vor der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland. Die Idee, dass in Europa ein neuer Ost-West-Konflikt, eine Wiederauflage des Kalten Krieges drohen könnte, war vor drei Monaten noch nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.
So steht Angela Merkel an diesem Donnerstag vor dem Deutschen Bundestag und schlägt in ernsten, besorgten Worten einen großen Bogen vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der sich in diesem Sommer zum 100. Mal jährt, und von der Shoa, der Vernichtung jüdischen Lebens im Zweiten Weltkrieg, der vor 75 Jahren begann, zum aktuellen Konflikt um die Krim. Mehr noch, in ungewöhnlich scharfer Form geißelt die Regierungschefin das Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem sie offen einen „Bruch des Völkerrechts“ sowie eine „Verletzung der ukrainischen Verfassung“ und der territorialen Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine vorwirft.
Russland agiere in der Ukraine nicht wie ein „Partner für Sicherheit und Stabilität“, sondern nutze die politische wie ökonomische Schwäche des Nachbarn aus. Damit, so Merkel, handle Russland im 21. Jahrhundert mit den Methoden des 19. und 20. Jahrhunderts. „Es ist beklemmend, was wir mitten in Europa erleben.“ Statt vertrauensbildender Nachbarschaftspolitik betreibe Moskau althergebrachte Geopolitik.
Für die Bundesrepublik wie die Europäische Union stellt die Kanzlerin unmissverständlich klar, dass man auf die Annexionspolitik des russischen Präsidenten nicht mit den Methoden der Vergangenheit antworten wird. „Militärisch ist der Konflikt nicht zu lösen. Ein militärisches Vorgehen ist keine Option.“ Gleichwohl könne man „nicht zur Tagesordnung“ übergehen und das völkerrechtswidrige Verhalten akzeptieren.
Vor dem Bundestag spricht sich die Kanzlerin klar für eine Verschärfung der Sanktionen aus bis hin zu einer drastischen Einschränkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ausdrücklich dankt sie ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) für seine bisherigen Bemühungen um eine diplomatische Lösung, auch wenn es sich zuletzt um „frustrierende Gespräche“ gehandelt habe.
Für den Kurs der Kanzlerin und ihres Außenministers gibt es im Parlament eine breite Mehrheit, wie die ernsthafte Debatte belegt. Nicht nur die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD verurteilen das Vorgehen Russlands scharf, auch die oppositionellen Grünen unterstützen die Regierung in ihrem Vorgehen gegen den Kremlchef. Sie sei „sehr dankbar“, dass sich Deutschland nicht neutral verhalten habe, sondern „mit Diplomatie und Besonnenheit“ reagiert habe, sagt Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Die von der EU beschlossenen drei Stufen der Sanktionen seien richtig. „Russland wird nicht so weitermachen können wie bisher.“
Russland verurteilt
Auch Linksfraktionschef Gregor Gysi verurteilt das Vorgehen Russlands scharf, wirft aber gleichzeitig dem Westen eine gehörige Mitschuld an der Eskalation der Krise vor. „Alles, was Nato und EU falsch machen konnten, haben sie falsch gemacht.“ Mit ihrem Vorgehen im Kosovo, dessen Abspaltung von Serbien der Westen 1999 mithilfe eines nicht von den UN mandatierten Krieges erzwungen habe, sei eine „Büchse der Pandora“ geöffnet worden. „Die Abtrennung des Kosovo war ebenso völkerrechtswidrig wie die Abtrennung der Krim.“ Es sei nicht gerade glaubwürdig, „wenn Völkerrechtsverletzter Putin dann die Verletzung des Völkerrechts vorwerfen“.
Ein Argument, das Angela Merkel erwartet und das sie in ihrer Regierungserklärung in scharfer Form zurückgewiesen hat. „Die Situation damals ist in keiner Weise mit der Situation in der Ukraine heute vergleichbar.“ Nicht zuletzt weil es damals Russland war, das mit seinem Veto im UN-Sicherheitsrat die Menschenrechtsverletzungen des Slobodan Milosevic gedeckt habe.
Ukraine gründet Nationalgarde mit 60 000 Mann
Vor dem Hintergrund des Konflikts mit Russland hat die Ukraine den Aufbau einer Nationalgarde mit bis zu 60 000 Mann beschlossen. Einstimmig billigte das Parlament in Kiew am Donnerstag den Aufbau der Garde. Russland verstärkte wenige Tage vor dem Referendum zum Status der Krim seine Militärübungen nahe der Grenze zur Ukraine. Insgesamt 262 Parlamentarier gaben ihr Ja für den Aufbau einer Nationalgarde, Gegenstimmen gab es nicht. Die Garde soll sich vor allem aus Freiwilligen der sogenannten Selbstverteidigungsgruppen vom Maidan, dem zentralen Platz der Proteste in Kiew, zusammensetzen. Sie solle „die Sicherheit des Staates garantieren, die Grenzen verteidigen und Terrorgruppen ausschalten“, sagte der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, Andrij Parubij.
Das Innenministerium soll die Nationalgarde führen. Die könnte so der regulären 130 000 Mann starken Armee der Ukraine beistehen. Zum Vergleich: Die Truppenstärke der russischen Armee liegt bei 845 000 Soldaten. TEXT: dpa