Starr fixiert das Raubtier aus kreisrunden Augen sein Opfer, fletscht grimmig die spitzen Zähne. Eine unbedachte Bewegung genügt, und es springt herab. So scheint es. Die Reliefplastik ist jedoch fest mit dem Kalksteinpfeiler verwachsen. Sie wirkt so befremdlich wie die Fratzen und Monster an romanischen Kirchen. Das faszinierende Kunstwerk ist allerdings nicht vor rund 850 Jahren entstanden. Es ist weit älter. Jäger und Sammler schufen es vor fast 12 000 Jahren.
Das Raubtier samt Pfeiler ist Teil eines jungsteinzeitlichen Heiligtums. 1994 stand der Archäologe Klaus Schmidt erstmals auf dem einstigen Kultplatz im äußersten Südosten der Türkei, etwa 15 Kilometer von der geschichtsträchtigen Stadt Urfa entfernt. 30 Jahre vor Schmidt wurde das Gelände von einem US-amerikanischen Forscher entdeckt. Klaus Schmidt, Professor am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Erlangen und Mitarbeiter der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin, erkannte jedoch aufgrund eines verbesserten Forschungsstandes als Erster die Bedeutung des Ortes.
Bei der bis zu 15 Meter hohen Erhebung im karstigen Gelände mit einem Durchmesser von etwa 300 Metern handelt es sich um einen Ruinenhügel. Er entstand im Lauf der Jahrtausende durch Menschenhand. Göbekli Tepe nennen ihn die Einheimischen: „gebauchter Berg“.
Mittlerweile haben Archäologen etliche Löcher in den Bauch gegraben. Zum Vorschein kamen Kreisanlagen aus unterschiedlichen Zeiten. Sie werden von einem umlaufenden Mauerwerk und einem Kranz aus zwei bis drei Meter hohen Pfeilern begrenzt. So ergibt sich ein abgeschlossener innerer Bezirk. Im Zentrum befinden sich meist zwei bis zu sieben Meter hohe und 50 Tonnen schwere Pfeiler. Acht Kreisanlagen und über 60 Pfeiler wurden bislang vom Schutt der Jahrtausende befreit. Mindestens zwölf Kreisanlagen sind laut Schmidt noch im Hügel verborgen. Eine Sensation.
Kein Prähistoriker hatte es bis dahin für möglich gehalten, dass in einer nomadisch lebenden Gesellschaft, die noch keine Tongefäße kannte, sich so viele Menschen über längere Zeit an einem Platz aufgehalten haben. Etwa 500 bis 1000 Menschen seien nötig gewesen, um diese monumentalen Anlagen zu errichten, schätzt Schmidt. Sie fielen in dieser Zeit als Jäger und Sammler aus und mussten von der Sippe versorgt werden. Der in Feuchtwangen geborene Archäologe ist sich sicher: „Die Menschen in Obermesopotamien machen damals den Sprung zur bäuerlichen, sesshaften Lebensweise, die ja die Grundlage für alle entstehenden Zivilisationen bildet.“ Dieser Region kommt laut Schmidt deshalb „eine Schlüsselstellung“ zu.
Aufgrund dieser Erkenntnis müssen die Geschichtsbücher neu geschrieben werden. Die „Neolithische Revolution“ kann nun nicht mehr wie bisher üblich auf 8000 vor Christus datiert werden. Sie fand am Göbekli Tepe bereits um 9600 vor unserer Zeitrechnung oder sogar noch früher statt – am äußeren nördlichen Rand des „Fruchtbaren Halbmondes“. So bezeichnen Prähistoriker das Gebiet von Jericho in Israel über Jordanien, Syrien im Westen, die südöstliche Türkei sowie der obere Irak im Norden und der westliche Iran im Osten, wo sich Ackerbau und Viehzucht entwickelten und Wildgetreidesorten kultiviert wurde.
Völlig unvorstellbar war es vor den Ausgrabungen am Göbekli Tepe für die Fachwelt, dass sich die Menschen der Steinzeit solch alles überragende und höchst künstlerische „Kulissen“ für ihre mythologischen Bilderwelten ausgedacht haben. Am Göbekli Tepe sei großes Theater und nicht nur schlichte Einakter gespielt worden, schreibt Klaus Schmidt in seinem 2006 im Verlag C. H. Beck erschienenen Buch „Sie bauten die ersten Tempel“ – und fügt hinzu, dass „die Dramaturgie auf immer verloren ist“. Welche Stoffe dort so grandios in Szene gesetzt wurden, wird nie eindeutig geklärt werden können. „Wir haben keinerlei schriftliche Quellen oder Hilfestellungen, die Licht ins Dunkel bringen könnten. Wir müssen die materiellen Quellen für sich alleine sprechen lassen.“
Diese stehen Klaus Schmidt und seinem Team allerdings in Hülle und Fülle vor Augen. Bei jeder Grabungskampagne tauchen neue Kreisanlagen und neue Pfeiler mit Figuren, Mustern und Zeichen aus dem gebauchten Berg auf. Zur Welt der steinzeitlichen Künstler gehören neben zähnefletschenden Raubtieren auch Stiere, Füchse, Kraniche, Wildschweine, Gazellen, Wildesel, Skorpione, Schlangen und Geier – aber nur wenig menschliche Darstellungen wie beispielsweise ein kopfloser Mann mit erigiertem Penis.
Die Pfeiler interpretiert Klaus Schmidt als „anthropomorph“, als menschenähnliche Wesen. Der Schaft stellt den Körper dar, das T-förmige Ende den Kopf. Gesichter werden nicht gekennzeichnet, dafür Arme und Hände – vor allem bei den Pfeilern im Zentrum. Ob es Priester oder sogar Götter sind, lässt Schmidt offen. Dass es sich beim Göbekli Tepe um ein Heiligtum handelt, liegt für ihn jedoch auf der Hand. Bisher ist Schmidt auf keine Wohnhäuser gestoßen, nur auf die besonderen Rundbauten. „Sie dienten nicht dem alltäglichen Leben, sondern haben im weitesten Sinne etwas mit Religion zu tun.“
Für Klaus Schmidt ist es unwahrscheinlich, dass weitere Plätze auftauchen könnten, die dem Göbekli Tepe gleichen. „Dieses Phänomen wird einzigartig bleiben“, lautet die Vorhersage des Archäologen. Ein Glücksfall ist der gute Erhaltungszustand. Die Erbauer haben die Anlagen nach einiger Zeit komplett verfüllt. „Das war Teil des Programms“, sagt Schmidt, „sie haben jede Anlage überhügelt – wie einen Grabhügel – und darauf neue Heiligtümer errichtet“. Die Füllschichten sind für die Ausgräber wahre Fundgruben. „Sie sind voll mit Artefakten, Tier- und Menschenknochen.“ Noch ist nicht klar, wie die menschlichen Überreste dort hineingekommen sind. Waren es ungewollte Verlagerungen? Womöglich Abfälle?
Klaus Schmidt rechnet damit, dass er in den Tiefen des Göbekli Tepe auf Ossuarien stößt, auf Ansammlungen von Menschenknochen, die dort im Zuge von Zweitbestattungen niedergelegt wurden. Bis er den Kern des Hügels erreicht, werden allerdings noch etliche Grabungskampagnen nötig sein.
Momentan schreiben Schmidt und Mitarbeiter an der ersten umfassenden Fachpublikation über den Göbekli Tepe. Sicher ist, dass der „Tempelberg“ vor etwa 10 000 Jahren aufgegeben wurde, und dies „ziemlich abrupt“. Gegen Ende hin wurden die Anlagen kleiner und eckiger. „Offenbar hatten die Menschen keine Möglichkeit mehr, Monumentales zu errichten, weil sie für den immensen Aufwand keine großen Gruppen mehr organisieren konnten.“
Bis Klaus Schmidt auch Erkenntnisse über den Ursprung, den Beginn des Göbekli Tepe veröffentlichen kann, werden noch etliche Jahre ins Land ziehen. Er geht davon aus, dass er im Zentrum des Hügels auf Steinkreise stoßen wird, die bis zu 14 000 Jahre alt sind, „also eiszeitlich“. Sie wären dann fast so alt wie die Höhlenmalereien in Frankreich, in Lascaux oder Altamira. In der komplexen Gedankenwelt, die auf Spirituelles weist und die dort wie am Göbekli Tepe zum Ausdruck kommt, zeigt sich schon jetzt ein überzeitliches Phänomen. Klaus Schmidt betont: „Die Menschen der Steinzeit hatten dieselben intellektuellen Fähigkeiten wie wir. Es waren keine primitiven dumpfen Wilden.“