Nicolaas Tulp (1593–1674), Bürgermeister und Arzt in Amsterdam, hatte schon viel gesehen im Leben, doch dieses kleine Mädchen zog ihn in seinen Bann: 150 Pfund wog die Fünfjährige, als sie zu ihm in Behandlung kam. Auch Tulps Kollege Thomas Bartholinus (1616–1680) beschäftigte sich mit extrem fettleibigen Menschen. Eine seiner kleinen Patientinnen, ein zehnjähriges Mädchen, konnte schon nicht mehr laufen, wog über 200 Pfund. Die Leute gafften und tuschelten. Der Vater der Kleinen wusste um die Faszination dieses Umstandes. So fuhr der Mann mit dem Kind von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, stellte es als Attraktion aus und verdiente sein Geld damit.
„Heute undenkbar“, sagt Professor Dr. Michael Stolberg, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg. Wenngleich der Anblick extrem Fettleibiger auch heute zu Emotionen jeder Art führt. Von Mitleid über Spott bis hin zu Hasstiraden ist alles zu finden.
Stolberg hat seine Erkenntnisse über die lange Geschichte der Fettsucht jüngst im Fachmagazin „Studies in History und Philosphy of Biological and Biomedical Sciences“ veröffentlicht. Demnach waren ärztliche Theorien und Therapieformen bei Fettsucht gar nicht so weit entfernt von denen heute. „Wenn man mal von den weniger angenehmen Varianten wie Trinken von Essig absieht“, sagt Stolberg. Wer abnehmen wollte, sollte damals laut ärztlichem Rat gezielt und häufig auf Lebensmittel zurückgreifen, die der Körper nicht brauchte.
Vorstellungen von Energie, Stoffwechsel, Kalorien oder Kilojoule hat es damals, vor mehreren hundert Jahren, nicht gegeben, dafür dominierte die Säftelehre. Fast alle Krankheiten wurden auf verdorbene, unreine, faulige Säfte im Körper zurückgeführt. Diese versuchte man durch Aderlässe und Schröpfen auszuleiten. Auch für das überschüssige Fett versuchte man Erklärungen zu finden.
Durch exzessive Nahrungsaufnahme könne der Körper die Nahrung nicht mehr verarbeiten, rohe Reste würden sich ansammeln, die Gefäße verstopfen und zum Reißen bringen, mutmaßte etwa der französische Arzt Jean Fernel (1497–1555).
Im 17. Jahrhundert wurde Fett als eine Art Abfallprodukt betrachtet, das sich nicht über den Blutkreislauf abtransportieren lässt. „Erst nach und nach setzte sich die Idee durch, dass Fettgewebe durch Bewegung und Hitze verdünnt werden könnte“, erzählt Stolberg. Durch harte Arbeit oder Bewegung, so glaubte man, könnte das Fett zurück in die Blutgefäße getrieben und verbraucht werden.
Weniger essen und schlafen, dafür viel Bewegung, stand als ärztlicher Rat an oberster Stelle. Im Prinzip also wie heute? „Ja, auch die medizinischen Einschätzungen was die Folgen des Übergewichtes betreffen, unterscheiden sich kaum von denen heute“, so Stolberg. Die Ärzte prognostizierten ihren Patienten damals Herzschwäche, Herzstolpern, Atemnot, Schlaganfall und einen frühen Tod.
Schon in der Antike empfahlen die Mediziner den Fettleibigen als geeigneten Sport das Laufen. „Joggen als Abnehmhilfe ist uralt“, sagt Stolberg. Genau wie heute stellte aber auch damals schon jede Art von Bewegung extrem Fettleibige vor fast unlösbare Probleme. Viele konnten keine Treppen steigen, andere brachen beim Versuch, auf ihr Pferd zu steigen, schon nach wenigen Minuten schnaufend, stöhnend und schweißüberströmt zusammen. Schafften sie es dennoch, brach ihr Pferd fast zusammen. Die Tiere hatten enorme Lasten zu tragen.
Gemobbt wurden die Dicken damals allerdings noch nicht. „Spöttische Karikaturen findet man erst Anfang des 18. Jahrhunderts“, sagt Stolberg. „Fülligkeit war ja ein Zeichen von Wohlstand, niemand wurde aufgrund seiner Körperfülle stigmatisiert.“ Wenn es Bedenken gab, dann hatten sie einen religiösen Hintergrund: Völlerei galt als Todsünde. Ein Schönheitsideal im heutigen Sinne hingegen gab es nicht.
„Reichen Frauen, die sich wegen einer Schönheitsberatung an ihren Arzt wandten, ging es ausschließlich um ihre Haut, nie um ihr Gewicht“, erklärt der Medizinhistoriker. Die schlanke Figur wurde erst viel später zum Zeichen der Attraktivität. Mit Beginn der Romantik, der Liebesheirat und dem Ideal der schmalen Taille hatten es die schweren Frauen plötzlich sehr schwer. Was den Ärzten im späten Mittelalter noch nicht gelungen war, nämlich mit der Körperfülle ein gutes Geschäft zu machen, wurde nun zum lukrativen Markt.
Die Idee, den fülligen und damit in der Regel auch reichen Leuten Komplexe und Ängste einzureden, findet sich nämlich schon vor vierhundert Jahren. „Die Ärzte schürten bewusst Panik und stigmatisierten im Gegensatz zur Bevölkerung dicke Menschen als unbeherrscht, undiszipliniert und dumm. Durch ihre Fresssucht seien sie vom Ideal des vernunftbegabten Menschen weit entfernt“, so Stolberg.
Dieses Denken gewann irgendwann auch in der breiten Schicht der Bevölkerung die Überhand und hat sich bis heute nicht geändert. Es ist, so sagt Stolberg, Teil unseres kulturellen Erbes. „Ein Bewusstsein für ein unterschätztes oder vernachlässigtes Gesundheitsrisiko zu schaffen, war damals wie heute eine gute Möglichkeit, einen Markt für Publikationen, Ratgeber oder Medikamente zu schaffen.“
Dass extrem Übergewichtige in ärztliche Behandlung gehören, steht laut Stolberg, der selbst als Arzt tätig war, außer Frage. „Dennoch widerstrebt mir das Denken, alles, bis hin zum Gewicht, in Normen pressen zu wollen.“ Sobald jemand auch nur geringfügig von irgendwelchen vorgegebenen Standard-Kurven abweiche, breche schon Panik aus. Mit Lebensgefühl und Lebensqualität habe das nichts mehr zu tun.
Waren die Menschen damals, also ohne an Idealgewicht und Body-Mass-Index zu denken, glücklicher? Stolberg lacht. „Auf diese Frage lasse ich mich bestimmt nicht ein. Denn ob Menschen unter den Lebensumständen im Mittelalter in irgendeiner Weise glücklicher sein konnten, als wir heute, das kann man nicht beantworten. Und als Historiker belegen kann man es schon gar nicht!“
Eines jedenfalls steht fest: Die lange Geschichte der Fettsucht wird eine lange Geschichte bleiben. Gerade erst hat das Robert-Koch-Institut wieder Zahlen veröffentlicht. Demnach ist jeder vierte Deutsche deutlich zu dick. Mehr Fettleibigkeit, mehr Diabetes und nicht genügend Sport – den Deutschen ist im Vergleich zu 1998 keine Trendwende gelungen. Der Anteil der Übergewichtigen ist seit der Vorgängerstudie mit 68 Prozent bei den Männern und 53 Prozent bei den Frauen ungefähr gleich geblieben. Gestiegen ist jedoch der Anteil der extrem Fettleibigen: Ein knappes Viertel geht mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 30 durchs Leben – das hat man im Robert-Koch-Institut nicht erwartet. „Das ist kein Schönheitsaspekt mehr. Da geht es um mögliche Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, heißt es.
Eine gute Chance für extrem dicke Menschen sehen Ärzte heute in der operativen Medizin. „Es gibt verschiedene sehr wirksame Operationsverfahren, die geeignet sind, krankhaftes Übergewicht dauerhaft zu reduzieren“, erklärt Oberarzt Christian Jurowich, Leiter des Adipositas-Zentrums der Würzburger Uni-Klinik. „In der Regel bessern sich auch die Folgeerkrankungen nach einer solchen Magenoperation.“ Im Jahr 2011 wurden allein in Würzburg 120 solcher Operationen durchgeführt. In den Jahren davor waren es zwischen 60 und 80.
Eine Wunderdiät gibt es auch im Jahr 2012 nicht. Seit Jahrhunderten probieren übergewichtige Menschen schon alles aus, was der Markt hergibt. Von diversen Kräuterwässerchen im Jahr 1650 über verschiedene Pülverchen bis hin zu angeblich hilfreichen Fett-weg-Massagen und Trennkost heute gibt es nichts, das sich wirklich bewährt hätte. Ein sehr beliebtes Mittel, um das Fett wegzubekommen, war vor über 400 Jahren die Petersilie. Sie sollte, so Medizinhistoriker Stolberg, den Harnfluss fördern und damit das Fett aus dem Körper leiten. Ob die Fettsucht in Zukunft in den Griff zu bekommen ist, lässt sich angesichts ihrer langen Geschichte und ihrer Hartnäckigkeit bezweifeln. Mit Petersilie allein, das zumindest ist sicher, gelingt es jedenfalls nicht.
Übergewicht in Zahlen
Die deutsche Wohlstandsgesellschaft hat Folgen: Der durchschnittliche Erwachsene wird größer und schwerer. Allein zwischen 1999 und 2009 nahm er um etwa 2,1 Kilogramm zu. Laut der letzten Erhebung des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2009 wiegt ein Bundesbürger bei einer Größe von 1,72 Metern im Schnitt 75,6 Kilogramm. Viele Sicherheitsmaße müssen sich wegen des zunehmenden Gewichts ändern, Institutionen und Unternehmen müssen reagieren. Am Adipositaszentrum des Universitätsklinikums Würzburg zum Beispiel werden Spezialgeräte wie überdimensionale Operationstische, extrabreite Betten und Hebebühnen eingesetzt, um die wachsende Zahl Schwergewichtiger zu behandeln. „Es werden immer mehr adipöse Patienten, ganz klar“, sagt Chirurg Christian Jurowich. Jeder Eingriff im Bauch werde deutlich komplizierter, wenn ein Patient sehr übergewichtig sei. Rund 6300 Menschen wurden 2010 wegen krankhaften Übergewichts (Adipositas) in deutschen Krankenhäusern behandelt. Auch das geht aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervor. Besonders häufig wurde die Diagnose Adipositas den Thüringern gestellt: Zwölf von je 100 000 Einwohnern wurden statistisch gesehen wegen massiven Übergewichts im Krankenhaus behandelt. Fast ebenso häufig sind Menschen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg betroffen. Hier lagen die Quoten bei elf und zehn Patienten je 100 000 Einwohner. Der Kreis mit der höchsten Quote ist die Stadt Memmingen im Süden Bayerns: Elf Patienten bekamen die Diagnose Adipositas; hochgerechnet auf 100 000 Einwohner entspricht das einer Quote von 27 Fällen. In Deutschland bringen nach dem aktuellen Gesundheitssurvey für Erwachsene des Berliner Robert-Koch-Instituts zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte aller Frauen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von über 25 zu viele Kilogramm auf die Waage. Ein BMI von 25 gilt laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Grenze zum Übergewicht. Ein Viertel der Befragten ist mit einem BMI über 30 sogar krankhaft fettleibig (adipös). Einige Wissenschaftler kritisieren den BMI allerdings als zu vereinfachend. Er berücksichtige zum Beispiel nicht, zu welchen Anteilen ein Körper aus Fett und Muskeln bestehe. Außerdem werde nicht berücksichtigt, wo am Körper die Fettpolster liegen. Der BMI setzt das Körpergewicht ins Verhältnis zur Körpergröße. Der Index wird aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat berechnet. Auf das zunehmende Gewicht der Menschen reagiert hat auch die Flugzeugbranche. Flugzeugbauer Airbus vom Luftfahrtkonzern EADS zum Beispiel hat im A 320, seinem meistverkauften Mittelstreckenflieger, breitere Sitze eingebaut. Pro Flugzeug sind bis zu 60 der 180 Sitze extrabreit. Sie liegen alle am Gang und bieten rund fünf Zentimeter mehr Platz als die knapp 46 Zentimeter breite Standardausführung. TEXT: dpa