Andrea Straub hat einen Wunsch an jenem 6. März 2017. Es ist der Tag, an dem der Prozess gegen Anton Schlecker, seine Frau und die Kinder Meike und Lars beginnt. „Ich wünsche mir Gerechtigkeit“, hat Andrea Straub da gesagt. Sie ist eine von 25 000 „Schlecker-Frauen“, die durch die spektakuläre Pleite der Drogeriemarktkette ihren Job verloren haben. 17 Jahre lang arbeitete sie in Stetten am kalten Markt (Lkr. Sigmaringen) in einer der Schlecker-Filialen, bekam zuletzt nicht einmal mehr ihren Lohn. Enttäuscht sei sie von der Unternehmerfamilie aus Ehingen bei Ulm. „Wir wurden bis zur letzten Minute angelogen.“ Straub hat lange überlegt, ob sie sich das antun soll – nach Stuttgart fahren, den Schleckers in die Augen schauen. Aber es geht ja um Gerechtigkeit.
Mehr als acht Monate lang wurde der Fall Schlecker nun vor dem Stuttgarter Landgericht verhandelt. Am heutigen Montag stehen die Plädoyers an. Eine Woche später soll das Urteil fallen.
Spektakulärer Wirtschaftsprozess vor dem Ende
Damit geht einer der spektakulärsten Wirtschaftsprozesse der vergangenen Jahre zu Ende – begleitet von Wut und Zorn der enttäuschten Mitarbeiter, geprägt durch juristisches Fingerhakeln und widersprüchliche Aussagen von Zeugen. Auf über eine Milliarde Euro summieren sich die Forderungen der Gläubiger. Sollte Anton Schlecker die Hoffnung gehegt haben, dass er straffrei ausgehen könnte, so haben ihm seine Anwälte das in den vergangenen Wochen wahrscheinlich ausgeredet. Nachdem der Vorsitzende Richter Roderich Martis es den Anklägern „ans Herz gelegt hat“, einige ihrer Vorwürfe zurückzunehmen, ließen die etliche Punkte fallen. Für Juristen ist das ein Indiz, dass es zu einer Verurteilung kommt. Die Botschaft der Strafkammer: Die Anklagepunkte wurden nur deshalb fallengelassen, weil sie im Vergleich zu den anderen Taten „nicht beträchtlich ins Gewicht“ fallen. Die spannende Frage ist eher, ob Schlecker ins Gefängnis muss oder mit einer Bewährungsstrafe davonkommt.
Noch immer geht es um einen Schaden in beträchtlicher Höhe. Auf 25 Millionen Euro hat die Staatsanwaltschaft die verbotenen Entnahmen in ihrer 270-seitigen Anklageschrift hochgerechnet. Zu einer Zeit, zu der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die Pleite schon absehbar war, floss Geld aus den Firmenkassen in teure Urlaubsreisen, Tennisplätze und Millionengeschenke für die Kinder. Lange wird vor Gericht über die Frage gestritten, ab wann Anton Schlecker den Zusammenbruch seines Imperiums nicht mehr übersehen konnte. Die Ankläger datieren diesen Zeitpunkt zunächst auf den 31. Dezember 2009, verschieben ihn im Lauf der Verhandlung aber um ein Jahr nach hinten. Damit werden einige der Millionen, die Schlecker bis zur Insolvenz 2012 aus der Firma schaffte, bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt. Das gilt allerdings nicht für die sieben Millionen, die von den mitangeklagten Kindern Lars und Meike erst wenige Tage vor dem Gang zum Insolvenzgericht auf Privatkonten transferiert wurden. Gerne verweisen deren Verteidiger auf die Rückzahlung der Summe an Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz. Doch ungeschehen wird der Vorgang dadurch nicht.
Viele Jahre andauernder Erfolg
Anton Schlecker, geprägt durch den viele Jahre andauernden Erfolg, glaubt offensichtlich bis kurz vor dem Zusammenbruch des Konzerns an die wirtschaftliche Wende. „Nicht vorstellbar“ sei eine Insolvenz für ihn gewesen, sagt er vor Gericht. Das stützt ein Manager des Großhändlers Markant: „Ich bin überzeugt, dass Herr Schlecker bis zum Schluss glaubte, dass er sein Unternehmen weiterführen kann.“ Erst am 19. Dezember 2011 sei Schlecker bei einem Treffen im schweizerischen Pfäffikon klargeworden, dass die Pleite unausweichlich war: „Er wurde aschfahl und bekam Tränen ins Gesicht.“
Andere Zeugen schildern den Patriarchen, der es vom Metzgermeister zum zeitweise reichsten Deutschen geschafft hatte, zumindest in den letzten Jahren als beratungsresistent. Geiwitz, einer der erfahrensten Insolvenzverwalter der Republik, sieht die Schuld für den Niedergang beim Chef selbst. Schlecker habe zu lange an seinen engen, altmodischen Läden festgehalten und die Entwicklungen der Branche verschlafen. Er habe die Wünsche der Kunden ignoriert. Geiwitz sagt: „Es hätte dem Unternehmen gutgetan, wenn man das beherzt früher gemacht hätte.
“ Ein Unternehmensberater hält Anton Schlecker vor, er habe ein aussichtsreiches Sanierungskonzept auf halber Strecke ausgebremst. Eine frühere Mitarbeiterin vergleicht die Drogeriemarktkette mit einer Diktatur, in der nur einer das Sagen hatte.
Anton Schlecker hat nie die Öffentlichkeit gesucht
Für den 73-Jährigen sind solche Tage im düsteren Saal 18 des Stuttgarter Landgerichts sichtlich eine Qual. Die Öffentlichkeit hat der Kaufmann nie gesucht, auch nicht in den guten Jahren. Seit 1999, als er im Prozess gegen die Entführer seiner beiden Kinder aussagen musste, gab es kaum öffentliche Auftritte. Noch aus der Zeit vor der Jahrtausendwende stammt das berühmte Bild, auf dem Schlecker ein Hemd in schreiend bunten Farben trägt, das für viele Jahre die Wahrnehmung des scheuen Unternehmers prägt. Entsprechend groß ist das Interesse der Fotografen, als der Prozess beginnt und Schlecker sich stellen muss. Bei Gericht erscheint er regelmäßig im schwarzen Pullover und dunklen Anzug. Der weißhaarige Mann ist alt geworden. Seinen Tee trinkt er aus Plastikbechern.
Um die Familie, die seit der Entführung der beiden Kinder 1987 äußerst zurückgezogen lebt, ranken sich im Lauf der Jahre viele Legenden. In einer wird der Sohn als Pferdenarr geschildert. Der mittlerweile 45-Jährige korrigiert das mit dem Hinweis, dass sein einziger Bezug zu Pferden aus der Zeit stamme, als er im Alter von 14 ein Jahr lang Reitunterricht hatte. Lars und Meike waren als Geschäftsführer der Logistikfirma LDG eingetragen, über die viele der fragwürdigen Finanztransfers abgewickelt wurden, die in der Anklage auftauchen. Die Firma hat nach Ansicht von Experten der Drogeriemarktkette des Vaters überhöhte Stundensätze in Rechnung gestellt und diese kurz vor der Insolvenz sogar noch einmal erhöht. Inzwischen schließen Beobachter nicht mehr aus, dass die Kinder höhere Strafen erhalten als der Vater.
Die Bilanzprüfer haben Fehler gemacht
Schnell beendet ist der Prozess für Christa Schlecker, die wegen Beihilfe zum Bankrott angeklagt war. Die 69-Jährige hat über Beraterverträge 52 000 Euro von der LDG bekommen. Ende Mai wird ihr Verfahren eingestellt. Sie muss 60 000 Euro an gemeinnützige Einrichtungen zahlen. Gegen Geldauflagen von 25 000 und 20 000 Euro können die beiden Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young die Anklagebank verlassen.
Richter Martis lässt keinen Zweifel daran, dass die Bilanzprüfer Fehler gemacht haben. Aber die Schuld sei gering.
Mit der Geldbuße hat Christa Schlecker wohl keine Probleme. In öffentlicher Verhandlung lüftet der Leiter der Ermittlungsgruppe „Watte“ den Schleier, der über den Vermögensverhältnissen der Familie lag. Bei Anton Schlecker habe man bei der Durchleuchtung von über 30 Konten keine nennenswerten Vermögenswerte gefunden. Ganz anders bei der Ehefrau und den beiden Kindern. Die drei hätten jeweils über zehn Millionen Euro verfügt. So gehört der Porsche, mit dem Anton Schlecker auch nach der Insolvenz jeden Tag in die ehemalige Konzernzentrale fährt, seiner Frau. In den Räumen betreibt die Familie nach dem Niedergang ihres Drogerie-Imperiums die Immobilienverwaltung CML (die Buchstaben stehen für Christa, Meike und Lars).
In ehemaliger Schlecker-Filiale eigenes Geschäft eröffnet
Für Andrea Straub und die anderen „Schlecker-Frauen“, die durch die Pleite des Unternehmens arbeitslos geworden sind, mag das alles wie Hohn klingen. Und doch ist die 50-Jährige nicht verbittert. Sie hat auch gar keine Zeit für solche Gedanken. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Karin Beck hat sie in der ehemaligen Schlecker-Filiale ihr eigenes Geschäft eröffnet. „Drehpunkt“ heißt es, eine Drogeriemarktkette, in der es Kosmetik und Putzmittel, Schreibwaren und Süßigkeiten, Bücher und Präsente gibt. Reich werden sie damit nicht. Bis heute zahlen die Unternehmerinnen einen Kredit ab, haben sie zuletzt in einem Interview erzählt, und arbeiten zwölf Stunden am Tag.
Ende Januar 2012, eine Woche nach dem Insolvenzantrag, beteuerte Meike Schlecker noch bei einer Pressekonferenz: „Es ist nichts mehr da.“ Im Gerichtssaal aber hat das Bild des ehrbaren Kaufmanns, der mit seinem Privatvermögen komplett haftet, arge Risse bekommen. „Wir hatten oder haben keine Sammlung von teuren Autos, keine Weingüter, keine Kunst, keine Jachten, keine Hotels“, grenzt sich Schlecker in seiner Aussage von anderen Patriarchen wie Schraubenkönig Reinhold Würth ab.
Immerhin räumt er ein, man habe sich „schon was geleistet“. So kann Geiwitz unter anderem einen Jaguar Double Six und einen Mercedes SLR McLaren versteigern.
„Sohn spricht von „Schadenswiedergutmachung“
In zwei Tranchen hat die Familie Geld aus dem Privatvermögen an den Insolvenzverwalter gezahlt. Schon 2013 holt sich Geiwitz zehn Millionen Euro zurück. Am Ende der Beweisaufnahme berichten die Angeklagten, dass sie weitere vier Millionen überwiesen haben. Zwei Millionen stammen von Christa Schlecker, je eine steuern die Kinder bei. Der Sohn spricht von „Schadenswiedergutmachung“. Und der Vater, der sich nur am Anfang des Prozesses zweimal persönlich zu den Vorwürfen geäußert hat, entschuldigt sich dann doch noch: „Ich bedauere die Insolvenz meines Unternehmens, insbesondere für meine früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Nun hängt es davon ab, ob diese späten Versuche, das Gericht milde zu stimmen, wirken.
Andrea Straub jedenfalls wird nicht mehr nach Stuttgart fahren, ihrem ehemaligen Chef nicht mehr in die Augen schauen. „Mit dem Thema haben wir abgeschlossen“, sagt ihre Kollegin am Telefon. Aber natürlich wird sie die Strafe für die Schleckers interessieren. Schon der Gerechtigkeit wegen. Mitarbeit SOK
Das war der Drogerie-Riese Schlecker
Schlecker war jahrelang die Nummer eins der deutschen Drogerieketten. 1975: Anton Schlecker, Metzgermeister aus Ehingen, eröffnet in Kirchheim unter Teck (Baden-Württemberg) den ersten Drogeriemarkt. Zwei Jahre später sind es 100 Filialen. 1987: Schlecker erschließt Österreich; später folgen Spanien, die Niederlande, Frankreich. 1994: Schlecker betreibt nach eigenen Angaben rund 5000 Läden; Gewerkschafter kritisieren, Mitarbeiter würden schikaniert und schlecht bezahlt. Schlecker spricht von Einzelfällen. 2010: Es gibt wieder Kritik an den Arbeitsbedingungen. Der Grund diesmal: Bestehende Arbeitsplätze sollen mit Leiharbeitsverträgen ersetzt werden. 2011: Schlecker verfügt nach eigenen Angaben über 7500 Drogeriemärkte in Deutschland, europaweit sind es 11 000 Filialen.
Der Umsatz bricht von 6,55 Milliarden Euro im Vorjahr auf fünf Milliarden Euro ein, der Verlust wird mit 200 Millionen Euro angegeben. Ein radikaler Umbau des Filialnetzes beginnt. Januar 2012: Am 23. Januar stellt das als e.K. (eingetragener Kaufmann) firmierende Unternehmen Insolvenzantrag, wenige Tage später auch die Tochter IhrPlatz. März 2012: Das Amtsgericht Ulm eröffnet das Insolvenzverfahren. Zugleich verhandelt die Landesregierung über eine Bürgschaft der Bundesländer für eine Transfergesellschaft. Eine gemeinsame Lösung scheitert.
Juni 2012: Die größten Schlecker-Gläubiger stimmen für die Abwicklung des Unternehmens. Mögliche Investoren hätten zu wenig geboten, heißt es. Auch die restlichen 13 000 „Schlecker-Frauen“ in Deutschland verlieren bis Ende Juni ihren Job. dpa