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BERLIN
Der verordnete Pieks – Impfen im Klassenkampf
Schutzimpfung       -  Kurz vor dem Stich
Foto: Symboldpa | Kurz vor dem Stich
Christian Grimm
Christian Grimm
 |  aktualisiert: 22.04.2019 02:13 Uhr

Bangen Blicks warten 15 Kinder in Strumpfhosen auf Zwergenstühlen vor einem zum Behandlungszimmer umfunktionierten Raum ihres Kindergartens. Eine resolute Schwester versucht mit strengen Gesten, die Schar der Aufgeregten zu bändigen. Heulende Spielkameraden verlassen den Raum. Diejenigen, deren Familiennamen mit A oder B beginnen, erwischt es zuerst.

Irgendwann ist man selbst an der Reihe und wäre am liebsten weggelaufen. G und Grimm kommen ziemlich weit vorne. Doch es gibt kein Zurück. Der Arzt bemüht ein Lächeln und setzt danach routiniert die bedrohlich wirkende Spritze an das schmächtige Ärmchen, nach dem Pieks der Schmerz, wenn sich das Serum in der Schulter verteilt.

Fast alle in der DDR-Aufgewachsenen haben diese Szene im Kopf, wenn es um das Thema Impfen geht. Manchmal hatte man Glück und es gab eine Schluckimpfung auf einem Stückchen Zucker. Dann war der Impftag eine süße Freude und niemand weinte.

Der sozialistische Staat hatte sich auf die Fahnen geschrieben, gefährliche Krankheiten wie Keuchhusten, Kinderlähmung, Wundstarrkrampf, Pocken und Masern auszurotten. Unter der Parole „Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe“ bekamen die Menschen bis zum 18. Lebensjahr 17 Pflichtimpfungen verpasst. Das Durchimmunisieren der Bevölkerung war für die SED-Führung seit den 1950er Jahren Teil des Klassenkampfes, wie der Geschichtsprofessor Malte Thießen in einer Untersuchung gezeigt hat.

Im Jahr 1961 bot die DDR der Bundesrepublik drei Millionen Impfdosen gegen Kinderlähmung an. Im West-Teil Deutschlands steckten sich in dem Jahr über 4500 Menschen mit Polio an, während der Osten schon ab Mitte der 50er Jahre sein Impfprogramm etabliert hatte. Bundeskanzler Konrad Adenauer wies das Angebot der verhassten „Kommunisten“ entscheiden zurück, was die DDR-Medien genüsslich ausschlachteten. Wer als Bundesbürger in die Ost-Zone reiste, dem bot die DDR sogar kostenlose Impfungen an. „Während des Kalten Krieges eröffnete dieser Wettbewerb um die bessere Vorsorge eine Arena, in der Bundesrepublik und DDR um das bessere Gesellschaftsmodell stritten“, schreibt Thießen .

Um in dieser Systemkonkurrenz zu bestehen, lobte die SED Leistungsvergleiche zwischen Kreisen und Bezirken aus, wer die meisten Schluckimpfungen und Spritzen verabreicht hatte. Das erste Kräftemessen um die Impfhoheit wurde 1967 gar „zu Ehren des 50. Jahrestags der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ angesetzt. Geimpft wurde praktisch überall - in der Kinderkrippe, im Kindergarten, in der Schule, den Dauerimpfstellen, in den Betrieben und im Ferienlager. Im Gegensatz dazu standen in Westdeutschland die individuellen Persönlichkeitsrechte über der Volksgesundheit. Verstöße gegen den seit der Kaiserzeit bestehenden Zwang zur Immunisierung gegen Pocken wurden ab den 1960er Jahre nicht mehr verfolgt und nur noch mit einer Ordnungsstrafe belegt.

Dennoch holte die Bundesrepublik spätestens in den 70er Jahren beim Impfschutz auf, weil die Pharmakonzerne bessere Mehrfachimpfstoffe entwickelten und so die Zahl der zu verabreichenden Spritzen gesenkt werden konnte. Die staatlichen Serum-Werke auf der anderen Seite der Mauer konnten nicht mithalten. Wie das gesamte Land bröckelte in den 80er Jahren auch das Impfsystem. So porös wie der Staat wurden auch die Gummiverschlüsse, mit denen die Wirkstoff-Fläschchen versiegelt wurden.

 
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