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ANKARA
Der Tag, an dem Erdogan das Beten vergaß
TURKEY-VOTE-RESULTS       -  Feierten ihren Wahlsieg: Anhänger der Kurdenpartei HDP am Sonntag in Diyarbakir.
Foto: Bulent Kilic, afp | Feierten ihren Wahlsieg: Anhänger der Kurdenpartei HDP am Sonntag in Diyarbakir.
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 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:38 Uhr

Wie zu einer Beerdigung versammelt sich die Führungsriege der türkischen Regierungspartei AKP am späten Sonntagabend auf dem Balkon des Partei-Hauptquartiers in Ankara, vor dem ihre ratlose Anhängerschaft wartet. Traurige Mienen in grauen Anzügen reihen sich auf der Empore aneinander, kraftlos winken die Parteioberen dem Fußvolk zu. Manche der AKP-Granden blicken sich gegenseitig betreten an. Selbst der sonst stets lächelnde Regierungssprecher Bülent Arinc sieht aus, als habe er in eine Zitrone gebissen.

Auf dem Balkon müht sich AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit einer Rede ab, in der er so tut, als habe seine Partei gerade einen neuen strahlenden Sieg errungen. Dabei hat die AKP bei der Parlamentswahl nach mehr als zwölf Jahren und einer unvergleichlichen Siegesserie unerwartet die Regierungsmehrheit verloren. Schon in guten Zeiten ist Davutoglu kein mitreißender Redner. Jetzt springt überhaupt kein Funke mehr über. Die Menge der AKP-Aktivisten vor dem Gebäude jauchzt nur ein einziges Mal auf – als Davutoglu den Namen Recep Tayyip Erdogan erwähnt.

Doch Erdogan fehlt auf dem Balkon, und er ist auch sonst nirgendwo zu sehen. Der Präsident, der in den Wochen des Wahlkampfs allgegenwärtig war, ist abgetaucht. Von ihm, der sonst keinen Tag vergehen lässt, ohne die politischen Gegner als Lügner, Schwule, Atheisten, Landesverräter und Terroristenhelfer zu beharken, ist plötzlich kein Wort mehr zu hören. Erdogan ist verstummt, und in der AKP fühlen sich viele plötzlich sehr allein.

Erdogan wohl auch. Mehr als 40 Prozent Stimmen für eine Partei, die seit mehr als einem Jahrzehnt regiert, ist eigentlich ein stolzes Ergebnis. Zur Niederlage wurde das Resultat durch die völlig überzogenen Ziele, die Erdogan der AKP gesetzt hatte.

Eine überwältigende Mehrheit von mindestens 330 Parlamentssitzen hatte Erdogan für die Regierungspartei gefordert, um damit Verfassungsänderungen zur Einführung eines Präsidialsystems durchzusetzen. Die „Neue Türkei“ brauche einen starken Mann an der Spitze, lautete sein Argument, mit dem er im Wahlkampf für die AKP auftrat – obwohl die Verfassung dem Präsidenten parteipolitische Neutralität auferlegt. Der 61-Jährige kümmerte sich nicht darum, er glaubte sich einem großen Ziel sehr nahe. Dann kam der Wahltag. Die AKP stürzte ab und wurde im Parlament auf 258 Abgeordnete zurückgestutzt. Erdogans Traum zerplatzte.

Wie der Präsident reagierte, als er das Ausmaß des Debakels begriff, berichtete ein normalerweise sehr gut informierter Informant auf Twitter. Unter dem Pseudonym „Fuat Avni“ prophezeit ein zum Erdogan-Gegner gewordenes Mitglied des engeren Zirkels um den Präsidenten immer wieder präzise bevorstehende Polizeiaktionen gegen Regierungskritiker und andere Details. Über Erdogans Reaktion auf den Wahlausgang schrieb „Fuat Avni“, der Präsident sei in Schockstarre wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen geblieben. Sogar die vorgeschriebenen Gebetszeiten habe der fromme Muslim vergessen. Noch in der Nacht begann die von Korruptionsskandalen umwitterte Regierung laut „Fuat Avni“ mit der Vernichtung inkriminierender Dokumente.

Am Tag danach traut sich Erdogan immer noch nicht unter die Leute. In Ankara beginnt die schwierige Suche nach einer einigermaßen stabilen Regierungskoalition, in Istanbul schmiert die Börse ab, der Lira-Kurs rutscht in den Keller. Erdogan bleibt verschwunden. Das Präsidialamt lässt in einer dürren schriftlichen Mitteilung erklären, der „Ratschluss der Nation“ stehe über allem. Immerhin, sagen einige von Erdogans Gegnern: Der Präsident nimmt das Wahlergebnis an.

Stimmt das wirklich? Fügt sich der Kämpfer Erdogan in sein Schicksal? Manche glauben nicht daran. Der Präsident müsse sich nun entscheiden, ob er sich an die Spielregeln der Verfassung halten wolle oder nicht, sagt der Meinungsforscher Tarhan Erdem. Wenn er sich weiter so aufführe wie bisher und alle Andersdenkenden ausgrenze, werde es unmöglich, zwischen den verschiedenen Parteien einen Kompromiss für eine Koalition zu finden.

Raus aus dem Palast?

Das wird ohnehin schwierig genug. Die Nationalistenpartei MHP, die als potenzieller Regierungspartner der AKP gehandelt wird, bereitet laut Presseberichten einen Gesetzentwurf vor, mit dem Erdogan gezwungen werden soll, aus seinem ebenso prunkvollen wie umstrittenen Palast in Ankara auszuziehen.

Die Kurdenpartei HDP als Shooting-Star der Wahl mit ihren immerhin 82 Abgeordneten will ohnehin nichts mit Erdogan zu tun haben. Einige Beobachter spekulieren über eine Minderheitsregierung von MHP und der säkularistischen CHP, die von der HDP im Parlament geduldet würde. Auf diese Weise könnte die bisherige Opposition mutmaßlich korrupte AKP-Politiker vor Gericht stellen, die Zehnprozenthürde senken – und den Präsidenten aus seinem Palast vertreiben und auch sonst richtig ärgern. Erdogan hatte die Wahl zu einer Volksabstimmung über seinen Plan für ein Präsidialsystem erklärt, doch das Ergebnis ist für ihn eine Katastrophe. Das Resultat seien „60 Prozent gegen Erdogan“, tweetet der Journalist Cengiz Candar. „Eine schwere Niederlage für ihn. Eine große Erleichterung für die Türkei.“

So macht sich die Hoffnung auf eine neue Zeit breit, in der Regierungsgegner nicht mehr jeden Tag beschimpft oder mit Strafanzeigen überzogen werden. Die Aktien der Firma, die Wasserwerfer für die türkische Polizei herstellt, sacken ab, während die Werte regierungskritischer Medien an der Börse gegen den allgemeinen Trend nach oben klettern. Die Wähler wollten eine Erneuerung der Politik, sagt der Journalist Ali Bayramoglu, einer der wenigen unabhängig gebliebenen Köpfe bei der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“. Hayati Yazici, ein früherer Minister aus Erdogans Regierung, fordert die AKP zur Selbstkritik auf.

Besonders schmerzlich für Erdogan ist die Tatsache, dass er, der Meister aller Klassen bei Wahlkampftaktik und Dampf-Rhetorik, die Wahl höchstpersönlich vergeigt hat. Ausgerechnet er, der strahlende Sieger aller Wahlen seit 2002, der sich viel auf seine Nähe zum einfachen Volk einbildet, hat die Türken völlig falsch eingeschätzt. „Der Wähler hat Erdogan dafür bestraft, dass er die Wahl zu einer Abstimmung über das Präsidialsystem umfunktioniert hat“, urteilt der Autor Sedat Yurttas. Diese Stimmung im Volk war dem Volkstribun entgangen.

Besonders im Kurdengebiet ist die AKP eingebrochen, und auch dazu hat Erdogan beigetragen. Mit dem Koran in der Hand beschimpfte er die Kurdenpartei HDP als einen Haufen gottloser Gesellen. Mitten im Wahlkampf behauptete er plötzlich, es gebe überhaupt kein Kurdenproblem in der Türkei – obwohl er selbst den Geheimdienst seit Jahren mit dem inhaftierten Rebellenchef Abdullah Öcalan über eine Lösung des Kurdenkonflikts verhandeln lässt. Als die Dschihadisten des Islamischen Staates im vergangenen Jahr die Kurdenstadt Kobani in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei angriffen, verweigerte Erdogan den Kurden jede direkte Hilfe. Das haben ihm viele Wähler in Südostanatolien nicht verziehen.

Doch nicht nur an die Kurdenpartei HDP gab die AKP Stimmen ab. Erdogan brachte das Kunststück fertig, neben den Kurden auch die Rechtsnationalisten zu verärgern. Ihnen gingen die Kontakte der Regierung zur PKK und Erdogans Präsidialpläne viel zu weit. Deshalb konnte auch die Rechtspartei MHP zulegen. Noch nie hat Erdogan mit einer Wahlstrategie so daneben gegriffen.

Aber so schnell gibt Erdogan nicht auf. Zu allererst stellt sich die Frage, ob der Präsident nun den nominellen AKP-Chef und Premier Davutoglu zum Sündenbock macht und durch einen neuen Gefolgsmann ersetzt. Der Historiker Ahmet Insel ist jedoch überzeugt, dass dies Rückzugsgefechte eines Politikers sind, der seine beste Zeit hinter sich hat: „Die Ära Erdogan ist vorbei.“

TURKEY-POLITICS-VOTE       -  Recep Tayyip Erdogan meidet seit der Wahlniederlage die Öffentlichkeit.
Foto: Ozan Kose, afp | Recep Tayyip Erdogan meidet seit der Wahlniederlage die Öffentlichkeit.
 
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