Es mag so ausgesehen haben, als wende sich Boris Johnson an das Volk, wie er da am Montagabend vor der berühmten Tür mit der Nummer zehn stand und eine kleine Rede hielt. In Wahrheit aber sprach der Premierminister zu seinen 310 Parteikollegen.
„Ich will keine Neuwahlen, ihr wollt keine Neuwahlen“, sagte Johnson, untermalt von lautstarken Protesten vor den Toren von Downing Street. „Stopp den Putsch“, riefen die Demonstranten in Richtung Johnson. Die Stimmung ist aufgeladen, das Brexit-Drama droht zu eskalieren, wenn am Dienstag die Abgeordneten aus den Ferien zurückkehren.
Seit Tagen liebäugeln konservative Parlamentarier hinter den Kulissen damit, mit dem politischen Gegner der oppositionellen Labour-Partei zu paktieren, um im Eiltempo einen parteiübergreifenden Gesetzentwurf zu verabschieden, der den Austritt ohne Abkommen verhindern soll. Dadurch würde Johnson gezwungen, bei der EU eine Verlängerung der Scheidungsfrist zu beantragen. Der Regierungschef sagte, die Abgeordneten würden ihm bei seinen Verhandlungen mit Brüssel den Boden unter den Beinen wegziehen, falls sie diese Woche ein solches Gesetz auf den Weg brächten.
Unter keinen Umständen werde er den Brexit verzögern, betonte er abermals. Es war eine Kampfansage an Brüssel, die eigene Fraktion und Labour-Oppositionschef Jeremy Corbyn. Denn der Premier steht unter Druck, heute schon droht ein Showdown im Parlament. Hier die Regierung, die das Land, „komme, was wolle“, im Notfall auch ohne Abkommen am 31. Oktober aus der EU führen will. Dort die Gegner eines ungeregelten No-Deal-Brexits, denen die Zeit davonläuft.
Wer als Gewinner aus der Kraftprobe herausgehen wird, ist völlig unklar. Dass danach in Westminster nichts mehr so sein wird wie zuvor, dagegen schon. Die Entrüstung ist groß, seit Johnson in der vergangenen Woche angekündigt hat, dem Parlament eine Zwangspause verordnen zu wollen. Von „Diktatur“ reden seine Kritiker. Sie werfen dem Regierungschef vor, die Demokratie aushebeln zu wollen, auch wenn sich Johnson lediglich einer Option bedient hat, die die britische Tradition bietet. Eine geschriebene Verfassung gibt es nicht.
Ob jene konservativen Abgeordneten, die einen geordneten Brexit fordern, mit einem Zweckbündnis überhaupt Erfolg haben könnten, ob die Zeit für ein Gesetz ausreicht, bezweifeln Beobachter. Dabei versichert Johnson regelmäßig, er wolle bei der EU einen besseren Austrittsvertrag aushandeln und zeigte sich optimistisch angesichts der Signale aus Brüssel. Seinen Widersachern warf er vor, sie torpedierten seine Chance, die EU zu Zugeständnissen zu zwingen. Änderungen fordert er vor allem beim Backstop.
Die Brextremisten wollen die Garantieklausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel streichen und verlangen stattdessen Alternativlösungen. Brauchbare Vorschläge, wie diese aussehen könnten, blieben sie bislang schuldig. Am Montag wurde zudem ein Regierungspapier geleakt, in dem es heißt, dass alle auf dem Tisch liegenden Ideen Probleme aufwerfen. Keine Alternative ersetze den Backstop, schlussfolgert der Report.
Von Ideologien beflügelte Illusionen und die harsche Realität prallen an der irischen Grenze aufeinander, nur scheint das Problem weit genug von der Londoner Blase entfernt, als dass die Hardliner es ernstnähmen. Fakten? Im völlig polarisierten Brexit-Britannien gehen sie schon lange im Getöse unter. Auch wenn zahlreiche Abgeordnete jetzt mit allen Mitteln für ein geordnetes Ausscheiden kämpfen, die meisten von ihnen haben in den ersten Monaten dieses Jahres drei Mal das Abkommen abgelehnt, das Johnsons Vorgängerin Theresa May mit der EU vereinbart hatte. Das Unterhaus hat sich im Grunde selbst ausgeschaltet.