Es war Frust, der Virginia Raggi in die Politik trieb. Als vor gut drei Jahren ihr Sohn auf die Welt kam, fand sich die 37 Jahre alte Römerin in der Situation wieder, mit der alle jungen Eltern in der italienischen Hauptstadt zu kämpfen haben. Slalom mit dem Kinderwagen, zwischen zugeparkten Bürgersteigen, Schlaglöchern und vermüllten Straßen. Vergangenheit hat Rom bekanntlich zuhauf, in der Gegenwart regieren das Recht des Stärkeren und Verfall. Raggi wollte nicht resignieren und engagierte sich in der 2009 gegründeten 5-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo. Drei Jahre lang saß die Urheberrechts-Anwältin zuletzt für die Protestbewegung im römischen Stadtrat. Jetzt will sie als erste Frau überhaupt Roms Bürgermeisterin werden.
An diesem Sonntag finden Kommunalwahlen in mehr als 1300 italienischen Städten und Gemeinden statt, darunter auch in den Metropolen Turin, Mailand, Neapel und Rom. Die Wahl in der Hauptstadt hat traditionell die größte Bedeutung. Rom wirkt abseits der Sehenswürdigkeiten nach Jahren von Misswirtschaft, Verschuldung, Korruption und einem chronischen Verkehrschaos oft wie eine failed city, eine gescheiterte Stadt, deren Sanierung eine Herkulesaufgabe scheint.
Bald könnte eine bis vor kurzem unbekannte Außenseiterin den schwierigsten Job der Stadt übernehmen. Virginia Raggi liegt in allen Umfragen vorne.
Der Grund sind der Erfolg der 5-Sterne-Bewegung, die sich als radikale Alternative zu den etablierten Parteien inszeniert und schon bei den Parlamentswahlen 2013 mit 25 Prozent stärkste Partei wurde. Die telegene Römerin ist das jüngste, den Untiefen des Internets entsprungene Konterfei, mit dem die Grillini an die Macht streben und zum härtesten Konkurrenten des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi geworden sind. Gerade einmal 1767 Stimmen bekam Raggi bei einem Internet-Votum der römischen 5-Sterne-Bewegung. Das genügte für die Kür zur Spitzenkandidatin. Weil die Mutter und Motorrad-Fanatikerin auf den ersten Blick schlagfertig und kompetent wirkt, ist die Erstürmung des Kapitols in Reichweite gerückt. Sollte sich keiner der fünf aussichtsreichsten Kandidaten im ersten Wahlgang durchsetzen, fällt die endgültige Entscheidung in einer Stichwahl am 19. Juni.
Radikaler Gegenentwurf
Das Rezept der Grillo-Bewegung, die sich als die bislang überhörte Stimme der Bürger ausgibt, ist ein radikaler Gegenentwurf zum politischen Establishment. Die Hauptstadt steht immer noch unter dem Eindruck des jüngsten Korruptionsskandals Mafia Capitale, bei dem sich ein Netzwerk aus Ganoven, städtischen Funktionären und Politikern die Stadt wie eine Art Selbstbedienungsladen aufteilte. Auch der linksdemokratische Ex-Bürgermeister Ignazio Marino wurde von den Skandalen überrollt und trat im November zurück. Anschließend verwaltete ein Kommissar die Kommune. Wie ein Mantra hob Raggi im Wahlkampf die Unglaubwürdigkeit der Konkurrenz hervor, die in jahrzehntelanger Verwaltung nur Misserfolge aneinandergereiht und ein System der Vetternwirtschaft etabliert habe. Der Blick auf die Realität bestätigt die 37-Jährige. Sie verspricht Legalität und Transparenz.
Wenn es ins Detail geht, wirkt auch die resolute Anwältin zuweilen hilflos und wenig konkret. Sie fordert korrekte Ausschreibungsverfahren und klare Regeln. Den täglichen Verkehrskollaps will sie mit Strafzetteln, Busfahrstreifen, intelligenten Ampeln, Fahrradwegen und mehr Kontrolleuren in den öffentlichen Verkehrsmitteln bekämpfen. „Rom muss wieder eine normale Stadt werden“, fordert Raggi. Teure Großprojekte wie die Olympiabewerbung 2024 lehnt sie ab. Wie sie Ordnung im Dickicht von beinahe 60 000 städtischen Angestellten schaffen und die Verwaltung effizienter gestalten will, bleibt offen. Zweifel gibt es auch am Demokratieverständnis der Grillo-Bewegung, die bereits Dutzende kritische Mitglieder ausgeschlossen hat und deren innere Mechanismen unklar sind. Viele Wähler, die sich von keiner Partei repräsentiert fühlen, hegen Zweifel, ob Raggi nur eine ferngesteuerte Marionette des Komikers und der hinter ihm stehenden Internet-Firma Casaleggio oder doch eine glaubwürdige Repräsentantin entmutigter Bürger ist. Wie man hört, fühlen sich viele Römer von keinem der Kandidaten repräsentiert. Sie haben entschieden, am Sonntag gar nicht wählen zu gehen.