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Der Präsident, der Maßstäbe setzte
Nachruf: Richard von Weizsäcker hat die Deutschen fasziniert. Er fand zur richtigen Zeit die richtigen Worte. Der Welt bleibt er in Erinnerung als ein Mann, der gut war für dieses Land. Wir blicken zurück auf ein Jahrhundertleben.
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“: Diese Worte Richard von Weizsäckers gingen in die Geschichte ein.
Foto: Egon Steiner, dpa | „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“: Diese Worte Richard von Weizsäckers gingen in die Geschichte ein.
reda
 |  aktualisiert: 11.12.2019 14:55 Uhr

Für die meisten Deutschen hätte er sein Leben lang Bundespräsident bleiben können. Richard von Weizsäcker war ein Jahrhundertpolitiker. Nicht nur, weil er mehr als 94 Jahre gelebt und erlebt hat. Er ist der Maßstab für alle, die nach ihm kommen. Ein Staatsmann, der für dieses Land und seine Menschen ein neues Kapitel aufgeschlagen hat. Nicht als umjubelter Volkstribun, dem die Herzen zufliegen. Sondern eher als eine Art Ersatz-Monarch, zu dem die Bürger aufschauten.

Wer verstehen will, wie der Sohn einer Adelsfamilie Deutschland für immer verändert hat, kommt nicht am 8. Mai 1985 vorbei. Es ist der Tag, an dem Richard von Weizsäcker die Nachkriegszeit beendet. Keine zwölf Monate ist er damals Bundespräsident. Erst im zweiten Anlauf hatte er es in das Amt geschafft. Nun ist er das Staatsoberhaupt eines Volkes, das noch immer nicht weiß, wie es mit dem furchtbaren Erbe der Nazi-Diktatur umgehen soll.

40 Jahre sind seit Kriegsende vergangen. Die Zeit des Verdrängens ist vorbei. Dafür haben die 68er gesorgt. Doch was nun? Die Deutschen suchen ihre Rolle. Und von Weizsäcker findet den richtigen Ton. Er war dabei, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte. Er erlebte, wie sein geliebter Bruder am zweiten Tag des Krieges starb. Er pflegte Kontakt mit Widerstandskämpfern und verteidigte später als Jurastudent seinen Vater in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen.

Die Welt glaubt ihm

Und nun steht er am blumengeschmückten Pult des Bundestags und sagt jene Worte, die bleiben werden: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Die Welt hört zu. Und noch wichtiger: Die Welt glaubt ihm.

Nach all den Jahren spricht erstmals ein deutsches Staatsoberhaupt nicht mehr von einer Niederlage, vom Untergang oder von der Stunde Null. Nein, dieser Mann spricht von Befreiung. Er sucht die Schuld an der schmerzhaften Teilung des Landes nicht darin, dass die Deutschen den Krieg verloren haben, sondern darin, dass sie ihn begonnen hatten. Die Rede wird in 24 Sprachen übersetzt. Millionen lassen sich den Text nach Hause schicken.

Es ist ein Neuanfang. Für dieses Land. Aber auch für dessen Bürger. Vor allem für jene, die zu jung sind, um zu wissen, wie es war, Hitlers Krieg erlebt und überlebt zu haben. Für jene, die sich fragen, wie das alles passieren konnte und wer Schuld daran hat. „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird“, sagt von Weizsäcker. Obwohl er selbst am Tag seiner größten Rede schon 65 Jahre alt ist, beschreibt er damit auch seine eigene Mission.

Was heute als Konsens gilt, ist damals für manchen Konservativen noch ein Affront. Doch Richard von Weizsäcker empfindet es als die Pflicht seiner Generation, die Republik mit ihren Nachbarn zu versöhnen. „Es ging darum, zu vermitteln, dass wir Deutschen verstanden haben“, sagt er später einmal.

In seinen zehn Jahren an der Spitze des Staates ist der Aristokrat, der zwar in Stuttgart zur Welt kommt, in seinem Auftreten, seinem Pflichtbewusstsein und seiner Disziplin aber ganz und gar preußisch wirkt, Motor dieser Versöhnung. Für viele ist der vornehme Feingeist die Idealbesetzung für das Amt.

In seiner Erscheinung, aber auch in der Art, Politik zu machen, ist er der Gegenentwurf zum damaligen Kanzler. Auf der einen Seite der impulsive Machtmensch Helmut Kohl aus der Provinz, der in Hinterzimmern die Strippen zieht, rhetorisch aber limitiert bleibt. Und auf der anderen der eloquente Diplomat Richard von Weizsäcker, Präsident des evangelischen Kirchentages, ein Mann von Welt, der mehrere Sprachen beherrscht. Beide sind Mitglied der CDU. Weizsäcker ist eine Entdeckung Kohls, der ihn fördert – und dafür ewige Gefolgschaft erwartet. Doch eine solches Verständnis von Loyalität ist dem unabhängigen Denker fremd. Er geht auf Distanz. Das verzeiht Kohl ihm nicht. Und spottet später, Weizsäcker habe sich immer für den „Klügsten, Besten und Allermoralischsten“ gehalten.

Die beiden so unterschiedlichen Männer prägen die Bonner Republik der 80er und frühen 90er Jahre. Gemeinsam gehen sie eine lange Wegstrecke eher nebeneinander als miteinander. Und ergänzen sich doch. Der eine steht für die Macht. Der andere für die Moral.

Ihre größte gemeinsame Stunde erleben sie 1989. Mit dem Mauerfall wird Helmut Kohl zum „Kanzler der Einheit“. Als er ins Volk winkt, steht Weizsäcker in der zweiten Reihe. Dabei ist es nicht nur das Gespür des Kanzlers für die historische Chance, das aus zwei deutschen Staaten einen werden lässt. Denn als Amerikaner, Russen, Franzosen und Briten über die Wiedervereinigung diskutieren, steht eine Frage über allen anderen: Müssen wir vor einem großen, starken Deutschland Angst haben?

Dass George Bush senior, Michail Gorbatschow, François Mitterrand und – nach zähem Widerstand – auch Margaret Thatcher diese Frage mit Nein beantworten, hat viel mit jener Rede vom 8. Mai 1985 zu tun. Für das Ansehen der Deutschen in der Welt haben Weizsäckers Worte mehr getan als viele Staatsbesuche zusammen. Eine vergleichbare Wirkung hatte nur der Kniefall des Kanzlers Willy Brandt vor den Opfern des Warschauer Gettos 1970.

Kohl schießt mit der Einheit das große Tor. Doch die Vorarbeit leistet auch von Weizsäcker. Er empfindet das Ende des Kalten Krieges als das Wunder seines Lebens. Ein paar Jahre ist es erst her, dass er als Regierender Bürgermeister von Westberlin an der Mauer stand. Nun ist die Teilung überwunden. Am Tag der Wiedervereinigung ist Richard Karl Freiherr von Weizsäcker 70 Jahre alt – und der erste Bundespräsident aller Deutschen.

Er hat sein Ziel erreicht: Europa hat seinen Frieden mit den Deutschen gemacht. Doch es ist kein Moment des Triumphes für ihn. Eher ein Augenblick der Nachdenklichkeit. Mit Kohls Pathos kann er nichts anfangen. Wie so oft denkt der Historiker einen Schritt weiter. Als die Menschen in Ost und West in schwarz-rot-goldener Glückseligkeit versinken, tritt er auf die Bremse und appelliert an die neue Verantwortung des Landes: „Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen“, sagt er. Ein Satz voller Demut. Und ein Signal an all jene, die den Deutschen noch immer nicht über den Weg trauen.

Beruf „Zeitzeuge“

1994 endet die zweite Amtszeit des beliebten Bundespräsidenten. Im Empfinden vieler Deutscher ist er seitdem nicht gealtert. Er bleibt geistig wach und körperlich fit. Mit über 80 macht er noch das Sportabzeichen, schwimmt regelmäßig. Und als ihm das Alpin-Skifahren zu riskant wird, geht er eben Langlaufen. Er reist viel und hat mehr Zeit für die Familie. Die Ehe mit seiner Frau Marianne hält bis zu seinem Tod – mehr als sechs Jahrzehnte. Zusammen haben sie eine Tochter und drei Söhne. Als einer von ihnen 2008 stirbt, bricht für den Vater eine Welt zusammen. In die Öffentlichkeit zieht es von Weizsäcker am Ende nicht mehr. Doch er bleibt ein politischer Mensch. Und er meldet sich zu Wort, wenn er gefragt wird.

Für eine Dokumentation zu seinem 90. Geburtstag begleitet ihn die Moderatorin Sandra Maischberger zwei Jahre lang. Der Film zeigt ihn als humorvollen, geistreichen Menschen, der mit sich im Reinen ist und sich selbst nicht zu wichtig nimmt. Als Berufsbezeichnung gibt er jetzt „Zeitzeuge“ an. Und diesen Beruf nimmt er ernst. Er mag es nicht, wenn Journalisten oder Historiker die Dinge zu stark vereinfachen. Dann reagiert er auch mal schroff. „Wir Zeitzeugen haben immer damit zu kämpfen, dass die jüngeren Leute, die unsere Zeit erforschen, uns mitteilen, was wirklich war“, sagt er einmal ironisch in einem Interview. Er will schlicht Zeugnis ablegen. Interpretieren soll das jeder für sich selbst.

Einheitsfeier 1990 neben Helmut und Hannelore Kohl
Foto: dpa | Einheitsfeier 1990 neben Helmut und Hannelore Kohl
Das letzte Jahr als Präsident: 1994 an der Seite von Ehefrau Marianne.
| Das letzte Jahr als Präsident: 1994 an der Seite von Ehefrau Marianne.
 
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