Als Jean-Claude Juncker am 1. November vor einem Jahr das Amt des Kommissionspräsidenten übernahm, galt Jacques Delors noch als das Maß aller Dinge. Der französische Sozialist hatte die wichtigste EU-Behörde zwischen 1985 und 1995 geleitet. Bis heute wird er als politischer Chef dieser Institution gelobt, der der Gemeinschaft mit dem Binnenmarkt und der beginnenden Euro-Diskussion politisch seinen Stempel aufdrückte. Doch nach Junckers erstem Amtsjahr sind die Vergleiche verstummt.
„Wir haben keine Zeit“, drängte der Luxemburger vor wenigen Tagen die Staats- und Regierungschefs bei einer Telefonkonferenz zum Handeln in der Flüchtlingskrise. So redet keiner, der nur eine Institution leitet. So spricht ein Mann, der eine Führungsrolle beansprucht. Als europäischer Regierungschef?
Angeschlagen am Start
Dabei kam Juncker, der 18 Jahre lang als Premierminister die Geschicke des Großherzogtums leitete, bereits angeschlagen auf den Chefsessel der Kommission. Zwar hatte er die Europawahl als konservativer Spitzenkandidat gewonnen, aber die einstigen Kolleginnen und Kollegen wollten ihn zunächst nicht an die Spitze der Kommission berufen.
Juncker bekam den Job trotzdem, weil das Europäische Parlament sich für ihn stark machte. Kaum im Amt warf er alles um, was man bisher von der Behörde kannte, die sozusagen als der institutionalisierte Sündenbock für die Brüsseler Zentralgewalt gilt. Aus einem gleichberechtigten Team der Kommissare machte er einen schlagkräftigen Apparat mit sieben weisungsbefugten Vizepräsidenten.
Juncker richtete die Kommission auf ihren Kampf um wirtschaftliches Wachstum hin aus. Doch der Alltag sah anders aus: Trotz vieler Kritik aus den Mitgliedsstaaten hielt er bis zuletzt an Griechenland als Mitglied der Eurozone fest. Die Gespräche überließ er nicht allein der Euro-Gruppe, die dafür zuständig ist. Juncker verhandelte direkt mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras.
Jetzt marschiert er voran
Als im März 2015 die Flüchtlingswelle anrollte, versuchte er, den Mitgliedsstaaten eine Verteilquote zu verordnen, an der sich viele bis heute reiben. Sein angeknackstes Verhältnis zur deutschen Kanzlerin heilte, weil Juncker die deutsche Offenheit immer wieder lobte.
Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ein Kommissionspräsident, wie am vergangenen Sonntag, eine Art Gipfeltreffen mit ausgewählten Staats- und Regierungschefs einberuft und damit den ohnehin blassen Ratspräsidenten Donald Tusk praktisch ins Abseits schubste. So agiert kein Mann, der die Behörde führt, die laut Definition nur als „Hüterin der Verträge“ auftreten soll.
Juncker würde das so nie sagen. Aber er beansprucht Regierungsverantwortung. Und wird darin akzeptiert. Juncker macht vielleicht nicht bei jedem Auftritt den Eindruck, aber er marschiert tatsächlich voran.