zurück
Der Nachfolger der Zwillingstürme
Architektur: 13 Jahre nach den Anschlägen von New York sind die ersten Mieter ins neue One World Trade Center gezogen, ins höchste Bürogebäude der Welt. Der Einzug war unspektakulär. Umso spektakulärer ist der Turm, der alles überragt.
reda
 |  aktualisiert: 21.11.2014 18:52 Uhr

Ein Dienstsitz kann ein Container sein und trotzdem unschlagbar. „Ich hatte definitiv das schönste Büro der Welt“, sagt Kevin Murphy. Der 51-Jährige mit dem silbergrauen Gewerkschafterbart trauert der Zeit hinterher, als sein Schreibtisch in einer spartanischen Stahlbox stand. Es war eine Kiste, aber sie hatte Fenster, und sie stieg unaufhaltsam empor – 104 Stockwerke, 417 Meter über New York. Murphy war Chef über 3000 Stahlarbeiter, die in den vergangenen acht Jahren One World Trade Center (One WTC) errichtet haben, den Nachfolger der Zwillingstürme von Manhattan. Er ist nur wenige Schritte vom früheren Standort eines der beiden Türme entfernt, bei deren Einsturz am 11. September 2001 rund 2700 Menschen starben. „Wir sind ja an gute Aussicht gewöhnt“, bekennt Murphy. „Aber diese hier wieder zu haben, war unglaublich. Man sieht die Krümmung der Erde. Es ist fantastisch.“

Nach den Terroranschlägen glich Lower Manhattan jahrelang einer Geisterstadt, doch diese Zeiten sind längst vorbei. One WTC dominiert die neue Skyline als höchstes Bürogebäude der Welt. Nur ganz oben ist der Wind lauter als der Verkehr. In Spielzeuggröße grüßt die Freiheitsstatue aus dem strahlenden Blau des Hudson River. Nach Norden spreizt sich Manhattan in voller Pracht, der Central Park, Harlem, die Bronx und weiter: Mehr als 80 Kilometer sieht man bei klarer Luft.

Ground Zero gilt als die komplexeste Baustelle der Welt; ihr Flaggschiff lässt alle verstummen, die in den vergangenen Jahren Zweifel äußerten, ob Amerika seinem himmelstürmenden Can-do-Spirit noch gerecht werden kann. Die große Gedenkstätte auf der Plaza bildet die Grundrisse der vernichteten Türme nach. Daneben hat sich das 9/11-Museum zu einem Touristenmagneten entwickelt. One WTC allerdings ist keine Andachtsstätte, sondern ein Arbeitsgebäude – ein Signal der Zukunftsbereitschaft. Stahlarbeiter vom Schlage Murphys sprechen nicht gern über Gefühle. In einem aber ist er sich sicher: „Dieses Gebäude hat eine große heilende Kraft.“

Die ersten Mieter haben One WTC schon bezogen, früher als erwartet und ganz unspektakulär. Wie an einem normalen Morgen betraten Büroarbeiter das Hochhaus, errichtet von der Hafenbehörde von New York und New Jersey und ihrem Partner, dem Immobilienunternehmen Durst Organization. Sie durchquerten das Marmorfoyer und nahmen die Fahrstühle hoch zu ihren Schreibtischen. „Ein außergewöhnlicher Moment, der auf die allergewöhnlichste Art vorüberzog“, schrieb die „New York Times“ später über diesen Augenblick. Ganz ohne rotes Band oder Marsch-Band zur Eröffnung haben die Mitarbeiter des Condé-Nast-Verlages ihre Arbeit aufgenommen. Dank „New Yorker“, „Vogue“ und „Vanity Fair“ ist der Verlag eines der prestigeträchtigsten Medienhäuser der USA. Er belegt ein gutes Drittel der Bürofläche.

Kevin Murphy sagt: „Meine Männer haben jedes einzelne Stahlteil berührt.“ Und: „Es gab so viele unvergessliche Tage: Als wir über das Empire State Building hinausgewachsen sind. Als wir den Träger eingebaut haben, den Obama unterzeichnet hat.“ Die zahllosen Gedenksprüche, Unterschriften und Mut machenden Worte, die Arbeiter im Lauf der Jahre hinterlassen haben, verschwanden allmählich hinter Blenden und Putz.

Der prominenteste Sinnspruch allerdings wurde nicht überstrichen: Am 14. Juni 2012 besuchte der US-Präsident die Baustelle, um einen Stahlträger zu beschriften. „Wir erinnern uns, wir bauen neu, wir kehren stärker zurück!“, schrieb Barack Obama mit rotem Stift. Für Murphy selbst wurde auch dieser Tag überboten: „Für mich war der Höhepunkt das letzte Stück der Spitze. Da oben zu stehen und auf all meine Leute hinabzuschauen, das war ein Tag der Erleichterung, des Stolzes und der Freude.“

Das letzte Stück: Das ist ein 124 Meter hoher Mast, der manchen als Antenne, anderen als eine Art Turmhelm gilt. Seit kurzem wird das Empire State Building auch von 432 Park Avenue überragt, einem Apartmentkomplex, dessen Dachhöhe diejenige von One WTC übertrifft - ebenso wie der Willis Tower in Chicago. 2013 erkannte der Internationale Rat für hohe Gebäude und städtischen Lebensraum (CTBHU) das WTC-Spitzenkonstrukt aber als festen Architekturbestandteil an - damit ist One WTC bis heute der höchste Wolkenkratzer der westlichen Hemisphäre. Auf anderen Kontinenten gibt es drei größere, aber das sind keine reinen Bürogebäude.

Wenn der Betrieb einmal reibungslos läuft, dürfen ab Frühjahr 2015 auch Touristen die Aussicht wieder genießen. Die drei obersten Stockwerke sind als Panorama-Etagen ausgebaut, im mittleren soll es etwas zu essen geben.

Aufs Dach allerdings wird das Publikum, anders als früher, künftig nicht mehr gelangen. Die Atmosphäre oben auf dem Dach ist seltsam, der Lärmpegel niedrig. „Dieser Ort hat eine spezielle Bedeutung“, sagt Kevin Murphy. „Die typischen Flüche, die gegenseitigen Verwünschungen vom Bau, das war nirgends zu hören.“ Hier oben bleiben auch die Graffiti erhalten: „Wir werden nie vergessen“, steht auf der mächtigen Säule zwischen drei riesigen Ringen voll Sendetechnik. „Segne dieses Gebäude.“ „Gott segne Amerika.“ Und schlicht: „Wow!“

„Wir folgen hier keinen Regeln“, sagte Steven Plate. „Wir schreiben sie neu.“ Der 60-Jährige muss es wissen. Als Direktor von World Trade Construction hat er die Gesamtleitung. Neben den Türmen eins bis vier verantwortet er das Memorial, das Museum, ein modernes Fahrzeugprüfungszentrum und den „Transportation Hub“. Der spektakuläre Entwurf von Santiago Calatrava verbindet die Transitsysteme im Süden Manhattans und wird mit rund vier Milliarden Dollar wohl der kostspieligste Bahnhof der Welt. Mit 3,9 Milliarden Dollar ist auch One WTC fast doppelt so teuer geworden wie geplant. Das weltweit höchste Gebäude, der 2010 fertiggestellte Burj Khalifa in Dubai, hat gerade einmal 1,5 Milliarden gekostet. „Das Ganze ist ein Jahrhundertprojekt, möglicherweise eines des Jahrtausends“, wirbt Plate um Verständnis.

Die Bauherren brüsten sich damit, dass der Turm den sogenannten LEED- Gold-Standard für nachhaltige Architektur übererfüllt, vom Energiemanagement bis zum Baumüllrecycling. Das meiste Geld ging aber dafür drauf, künftige Mieter von der Sicherheit eines Hochhauses zu überzeugen, das nach dem Bombenattentat 1993 schon zum zweiten Mal von Terroristen angegriffen wurde. Plate hält One WTC für das widerstandsfähigste Gebäude der Welt. Der Beton ist mindestens zweimal so hart wie der des Hoover Staudamms.

Das Fundament reicht 61 Meter hinab; die ersten 20 Stockwerke wurden bombensicher ausgelegt - sie sind fensterlos. Kritiker haben den ehemals „Freedom Tower“ (Freiheitsturm) genannten Megalithen deshalb in „Tower of Fear“ umgetauft, Turm der Angst. Von außen ist seine Massivität aber kaum zu erkennen: Er bezieht seine Stabilität aus einem gut geschützten Kern in der Mitte, der Treppenhäuser und Sicherheitssysteme beherbergt. Die Fassade ist voll verglast.

Das früheste Modell stammt von Daniel Libeskind; seine Überplanung des gesamten Ground-Zero-Areals gewann eine Ausschreibung. Der damalige Investor Larry Silverstein kooperierte aber bereits mit einem anderen Architekten - David Childs. Inzwischen hat Silverstein die Hoheit über das Gebäude zwar abgegeben. Von Libeskinds ursprünglichem Konzept ist aber nur noch Symbolik erhalten: Die Höhe von 1776 Fuß verweist auf das Jahr der Unabhängigkeitserklärung. Das Licht an der Spitze und die großen Ringe darunter sollen an Fackel und Krone der Freiheitsstatue erinnern.

Architekt Childs hat mehrfach eine Orientierung am Washington Monument erkennen lassen: Seine unverwechselbare Form macht den Obelisken zur Ikone der Hauptstadt. Für Steven Plate hat das neue Gebäude beste Chancen auf ähnlichen Ruhm. „Es ist eine Präsenz, die Manhattan verankert und New York erneut als großartigste Stadt der Welt definiert“, sagt er. „Und ich glaube daran, dass die positive Energie, mit der so viele die Finsternis von diesem Ort vertrieben haben, ihn letztlich bestimmen wird.“

Nach seiner Arbeit am Dach der Stadt leitet Kevin Murphy jetzt den Stahlbau im neuen Bahnhof unter der Erde. Auf der Plaza vor One WTC lässt aber auch er keinen Zweifel daran, dass die Zwillingstürme einen würdigen Nachfolger gefunden haben. „Schauen Sie nur, wie schön es hier inzwischen ist“, sagt Murphy und lächelt: „All die Menschen, die nach oben schauen und staunen!“ Dann legt Murphy den Kopf selbst in den Nacken. „Es ist ein großartiges Gebäude, und es bestimmt die Skyline. Kein Zweifel: Dieser Bau definiert New York!“

Das neue Wahrzeichen von New York in Zahlen

Das One World Trade Center (WTC) ist mit einer Gesamthöhe von 541 Metern das höchste Bürogebäude der Welt, das Licht auf der Spitze ist 80 Kilometer weit zu sehen. Aufwand: Die Kosten für den Bau werden inzwischen auf 3,9 Milliarden Dollar geschätzt, etwa doppelt so viel wie ursprünglich geplant. 10 000 Menschen haben mehr als zehn Jahre gebraucht, um den Turm zu errichten. Der Materialtransport erforderte 180 000 Lkw-Lieferungen. Das One World Trade Center enthält mehr Stahl als die beiden Türme der Golden Gate Bridge zusammen, aber weniger als das Empire State Building. Insgesamt wurden Stahl und Beton mit einem Gewicht von 467 000 Tonnen verbaut. Die 71 Aufzüge gehören zu den schnellsten der Welt: Manche schaffen 610 Meter pro Minute. Architektur: Das Dach des Wolkenkratzers und die Oberkante des umlaufenden Geländers entsprechen den Höhen der beiden früheren Zwillingstürme. Die mehr als 30 Stockwerke hohe Turmspitze bringt die Gesamthöhe auf 1776 Fuß (541 Meter); das verweist auf das Jahr der Unabhängigkeitserklärung. Der Mast soll zusammen mit drei mächtigen Ringen für Kommunikations- und Sendetechnik an Fackel und Krone der Freiheitsstatue erinnern. Die kreisförmige Anlage allein wiegt 727 Tonnen. Die Fassade von One WTC besteht aus rund 13 000 Glasscheiben. Sie sind bis zu fünf Zentimeter dick und würden aneinandergereiht eine Strecke von mehr als 50 Kilometern ergeben. Die fensterlosen untersten 20 Stockwerke sind mit weiteren 4200 Scheiben verkleidet. Die Säulen des Fundaments reichen mehr als 60 Meter tief in die Erde. Sicherheit: Stahl und Beton sind weit widerstandsfähiger als gewöhnlich, die ersten 20 Stockwerke sind gegen Bomben gesichert. Darüber bietet vor allem der Kern des Gebäudes Schutz: Die Treppenhäuser sind doppelt so breit wie vorgeschrieben, für Rettungskräfte ist ein eigenes reserviert. Kommunikationsanlagen, Beleuchtung, Strom und Sprinkleranlagen funktionieren in diesem Bereich auch bei Unterbrechungen weiter.

Nutzung: Insgesamt birgt der Komplex 325 000 Quadratmeter Nutzfläche, 96 der 104 Stockwerke werden als Büros vermietet. Das Dach wird, anders als bei den alten Zwillingstürmen, nicht öffentlich zugänglich sein. Die obersten drei Etagen sind aber als Aussichts- und Restaurantflächen reserviert; sie stehen ab Frühjahr 2015 Touristen offen. Umwelt: Mehr als 35 Prozent des Baumaterials sind recycelt. Der bei den Bauarbeiten angefallene Müll wird zu 85 Prozent wiederverwertet. Zur Bewässerung von Grünpflanzen auf der Plaza, zur Kühlung und zur Toilettenspülung sammelt der Turm Regenwasser. Nach Angaben der Hafenbehörde werden 90 Prozent der Menschen, die hier arbeiten, mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Text: jsz

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Barack Obama
Bürogebäude
Daniel Libeskind
Dollar
Freiheitsstatue
Manhattan
Memorial
Santiago Calatrava
Stahlarbeiter
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen