Manchmal machen einem äußere Umstände einen Strich durch die Rechnung. Die Finanzkrise zum Beispiel, die US-Präsident Barack Obama die erste Amtszeit verhagelte, noch bevor sie begonnen hatte. Oder die Unwetterwarnung, die ihn am Donnerstag daran hinderte, seine Bewerbung um eine zweite Amtszeit vor 70 000 Menschen abzugeben. Das Finale des demokratischen Nominierungsparteitags in Charlotte, North Carolina, wird nicht im Football-Stadion, sondern in der überdachten Time Warner Cable Arena gefeiert, in der schon die zwei ersten Abende stattgefunden haben.
Valerie Dale ist trotzdem begeistert. Die 56-Jährige aus Virginia gehört zusammen mit ihrer Tochter Anisah Rasheed (27) zum Heer der freiwilligen Helfer, auf denen Obamas Bewegung basiert. „Diese Nacht hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen“, sagt sie. „Es war elektrisierend!“
Die Demokraten haben ein spektakuläres Programm auf die Beine gestellt. Mary J. Blige und die Foo Fighters rocken die mit 25 000 Zuschauern vollgepackte Halle, Stars wie Scarlett Johansson und Eva Longoria machen sich für den Amtsinhaber stark. Redner aus der gesamten Partei kontrastieren Obamas Bilanz mit dem Programm der Republikaner; Weggefährten zeichnen ein schwarzes Bild der Ägide von Herausforderer Mitt Romney als Gouverneur von Massachusetts. Der frühere Präsidentschaftskandidat John Kerry hält eine pointierte Ansprache, in der er Romney als Außenpolitiker erledigt. Und der heutige Vizepräsident Joe Biden – eben für eine zweite Amtszeit nominiert – beschreibt Obama aus der Sicht des Beteiligten: Eine mutige Entscheidung nach der anderen habe er den Präsidenten durch alle Krisen treffen sehen. „Osama bin Laden ist tot und General Motors lebt!“ Die Delegierten sind berauscht, noch bevor der Präsident die Bühne betritt.
Obama selbst gibt sich bescheiden, als er schließlich erscheint. 2004 habe er erstmals vor einem Demokratenkongress über Hoffnung gesprochen, sagt er, als Senator aus Illinois. Inzwischen sei diese Hoffnung auf die Probe gestellt worden – durch Kriegskosten, eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen der Geschichte und politischen Stillstand im Kongress. „Ich weiß, dass Wahlkampagnen kleingeistig erscheinen können und sogar dumm“, sagt der Kandidat. „Aber ganz am Schluss, wenn Sie Ihren Stimmzettel in die Hand nehmen, um zu wählen, werden Sie vor der klarsten Alternative einer ganzen Generation stehen.“
Die Wahl im November entscheide über zwei fundamental unterschiedliche Visionen von Amerika. Der Präsident beschwört ein Land von Gemeinsinn und Chancengleichheit, ein Wertesystem, das geholfen habe, die größte Mittelklasse und die stärkste Wirtschaft der Welt zu errichten. Die Opposition, erklärt Obama, habe bei ihrem Kongress in Florida alle möglichen Missstände angeprangert, aber keine Lösungsvorschläge vorgelegt. „Sie wollen Ihre Stimme, aber Sie wollen nicht, dass Sie Ihren Plan kennen.“ Weil sie seit 30 Jahren für dasselbe kämpften: „Hast du einen Überschuss? Versuch's mit einer Steuersenkung. Ist das Defizit zu hoch? Probier noch eine. Fühlst du eine Erkältung im Anmarsch? Nimm zwei Steuersenkungen, reduziere ein paar Regulierungen und ruf mich morgen wieder an!“
Die Zuhörer lachen dankbar, und Obama legt nach:. „Wenn Sie sich keine Krankenversicherung leisten können – hoffen Sie, dass Sie nicht krank werden! Wenn eine Firma giftigen Dreck in die Luft bläst, die ihre Kinder atmen – tja, das ist schlicht der Preis des Fortschritts. Wenn Sie es sich nicht leisten können, ein Unternehmen zu gründen oder das College zu besuchen – halten Sie sich an den Rat meines Herausforderers und ,leihen Sie Geld von Ihren Eltern‘!“ Aber der Präsident wird auch wieder ernst: „Das ist nicht, wer wir sind. Das ist nicht das, worum es in diesem Land geht!“
Obama wirbt für Investitionen in Bildung und Infrastruktur und für eine Schuldensenkung, zu der Wohlhabende ihren Beitrag leisten. „Wir denken nicht, dass die Regierung alle Probleme lösen kann“, wendet er sich an die Opposition. „Aber wir denken auch nicht, dass die Regierung der Quell all unserer Probleme ist – genauso wenig wie Sozialempfänger, Unternehmen, Gewerkschaften, Einwanderer, Homosexuelle oder irgendeine andere Gruppe, von der man uns erzählt, dass wir sie für unsere Probleme verantwortlich machen sollen.“
Obama zählt Versprechen auf, die er gehalten habe, und sagt, mehr noch sei er sich derjenigen Punkte bewusst, an denen er gescheitert sei. Vor allem aber definiert er den Begriff der Bürgerschaft neu: einen Patriotismus, der nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten anerkenne. Bei der Wahl vor vier Jahren sei es nicht um seine Person gegangen. „Meine Mitbürger – Sie waren der Wandel!“ Die Aufstockung der Stipendienprogramme? „Sie haben das getan.“ Die Gesundheitsreform? „Sie haben das ermöglicht. Wenn Sie sich jetzt abwenden, dann wird kein Wandel erfolgen.“
5000 Unterstützerpartys im Land und Millionen von Fernsehzuschauern verfolgen Obamas Plädoyer: „Wisse, Amerika: Unsere Probleme können gelöst werden. Unsere Herausforderungen können gemeistert werden. Der Weg, den wir anbieten, mag steiniger sein, aber er führt an einen besseren Ort. Und ich bitte Sie, diese Zukunft zu wählen.“
Valerie Dale muss er nicht überzeugen: „Die Republikaner machen mir Angst“, sagt sie um Mitternacht im Foyer – als Frau, als Muslimin, als Angehörige der Mittelschicht. „Obama ist 2008 in einem Hornissennest gelandet. Was er erreicht hat, ist erstaunlich!“
Wenige Stunden später werden die neuen Arbeitslosenzahlen veröffentlicht: Der Zuwachs an Jobs hat an Fahrt verloren. Die Arbeitslosenquote ist von 8,3 auf 8,1 Prozent gesunken, aber das liegt vor allem an Langzeitarbeitslosen, die die Suche aufgegeben haben. Einen Lichtblick gibt es für Obama trotzdem: Meinungsforschern zufolge liegen Romney und Obama bei einer Quote von 8,2 Prozent gleichauf. Bei 8,0 gilt ein Sieg des Amtsinhabers für wahrscheinlich.