Der Nato-Kampfeinsatz ist offiziell beendet. Der Afghanistan-Experte Reinhard Erös erklärt im Gespräch mit dieser Zeitung, warum das Land vom Frieden dennoch weit entfernt ist und was Afghanistan in Zukunft braucht.
Reinhard Erös: Der Begriff „Ende des Kampfeinsatzes“ durch den Abzug der Kampftruppen führt den militärischen Laien in die Irre. Auch wenn die USA rund 80 Prozent ihrer Soldaten abziehen, werden sie weiterhin mit großer militärischer Schlagkraft in Afghanistan präsent bleiben. Der Krieg in Afghanistan wird weitergehen – mit einer steigenden Zahl von Opfern unter der Bevölkerung und bei den afghanischen Sicherheitskräften.
Erös: Die Nato definiert als „Kampftruppe“ ausschließlich die Infanterie, sprich Fallschirm- und Gebirgsjäger, Grenadiere sowie die Panzertruppe. Diese Truppenteile sind sehr personalstark, benötigen umfangreiche Logistik und Unterstützungstruppen. Sie sind daher sehr teuer. „Nicht-Kampftruppen“ können vor Ort bleiben. Dazu gehören Spezialeinheiten wie die Navy-Seals, Kampfdrohnen, Kampfflugzeuge, private Söldnertruppen und Spezial-Einheiten der CIA. Diese Einheiten sind wenig personalintensiv und daher eher „preisgünstig“. Die Schlagkraft dieser „Nicht-Kampftruppen“ ist in einem asymmetrischen Krieg wie in Afghanistan, wo reguläre Truppen gegen die Milizen der Taliban kämpfen, oft höher als die von regulären Bodentruppen. Für die USA ist Afghanistan geostrategisch zu wichtig, um sich ganz zurückzuziehen.
Erös: Die rein militärische Bedeutung der Bundeswehr in diesem Krieg war von Anfang an gering. Ihr Einsatz hatte vor allem politischen Charakter. Mit der neuen Mission setzt Deutschland endlich stärker auf militärische Ausbildung. Das ist nicht verkehrt, kommt aber sehr spät. Damit, aber auch mit der Auswahl und Besoldung geeigneter Rekruten, hätte man bereits vor zwölf Jahren beginnen müssen.
Erös: Die „Afghan National Security Forces“ – also Polizei und Armee – zählen derzeit rund 350 000 Mann. Sie werden bislang ausschließlich vom Westen bezahlt. Sollte irgendwann kein Geld mehr aus dem Ausland fließen, würden Armee und Polizei schon in wenigen Wochen unweigerlich auseinanderbrechen.
Erös: Die meisten Soldaten und Polizisten fühlen sich nicht dem Staat Afghanistan, sondern ihren ethnisch verwandten Vorgesetzten zur Loyalität verpflichtet. Ihre berufsbedingte Lebenserwartung zählt zu den geringsten weltweit. Fast 5000 Sicherheitskräfte wurden im Jahr 2014 getötet. Ein Drittel der Rekruten quittierte unmittelbar nach der Ausbildung den Dienst oder lief wegen besserer Bezahlung mit Waffen und Ausrüstung zu den Aufständischen über. In den vergangenen drei Jahren hat auch das „internal killing“, also tödliche Angriffe afghanischer Rekruten auf ihre ausländischen Ausbilder, dramatisch zugenommen. Daher werden sie derzeit nur an Holzgewehren trainiert.
Erös: Die Sicherheitslage für die Bevölkerung – nicht für die Isaf-Truppen – hat sich seit 2010 von Jahr zu Jahr verschlechtert. Die größten Probleme sind Korruption, Entführungen und Gewaltkriminalität. Die Produktion von Opium, der Grundstoff für Heroin, ist seit 2001 von rund 180 auf circa 7000 Tonnen im Jahr 2014 geradezu explodiert.
Erös: Die hatten schon in den vergangenen Jahren kaum Möglichkeiten, internationale Truppen in Kämpfe zu verwickeln, da die Isaf-Bodentruppen ihre hoch gesicherten Camps kaum noch verlassen. Nach deren komplettem Abzug werden die Aufständischen verstärkt weiche Ziele angreifen: also Ausländer und ihre afghanischen „Kollaborateure“ in Hotels oder Restaurants. 2014 kamen mehr Zivilisten ums Leben als Isaf-Soldaten in den 13 Jahren zuvor.
Erös: Für wahrscheinlicher halte ich einen Zerfall der Zentralmacht Kabul. Ich erwarte eine extrem föderale Machtverteilung auf die Provinzen, eine Dominanz von regionalen Herrschern und ein stammesorientiertes Patronage-System. Schwache staatliche Strukturen, gepaart mit ungebremster Korruption, werden dazu beitragen, dass sich der Anbau von Drogen weiter ausbreitet. Dann droht ganz Afghanistan ein mafiöser Narco-Staat (Drogenstaat, Anm. der Red.) zu werden, mit Zuständen wie im Norden Mexikos.
Erös: Wir müssen endlich eine Strategie für den zivilen Aufbau definieren. Ein alle Lebensbereiche umfassendes Konzept, um vorher genau festgelegte Ziele zu erreichen. Das Versprechen von Entwicklungsminister Gerd Müller, Afghanistan im nächsten Jahr mit 400 Millionen Euro zu unterstützen, greift zu kurz. Bevor Geld fließt, muss geklärt sein, auf welches Niveau die deutsche Entwicklungshilfe Afghanistan bis 2020 in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Ausbildung, Arbeitsplätze, medizinische Versorgung bringen will. Entwicklungshilfe muss die Einheimischen in die Lage versetzen, Projekte eigenständig anzugehen und am Laufen zu halten. Es tut mir fast körperlich weh zu sehen, wie viel staatliches Geld, aber auch Herzblut unserer Soldaten in den Bau von Einrichtungen investiert wurden, die jetzt verrotten.
Erös: Bildung ist nicht alles, aber ohne Bildung ist alles nichts. Gebildete Frauen und Mütter werden am effektivsten in der Lage sein, die katastrophale Bevölkerungsexplosion – circa sechs Kinder pro Familie – zu bremsen. Darin liegt der Schlüssel für den Beginn einer Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen.
Reinhard Erös
Der 66-Jährige, der bei der Bundeswehr als Elitesoldat diente und später Oberarzt bei der Truppe war, gründete 1998 die Kinderhilfe Afghanistan. Erös, der neben Medizin auch Politologie (Schwerpunkt Sicherheitspolitik) studiert hat, unterrichtete mehrere Jahre als Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg angehende Generalstabsoffiziere. Mithilfe privater Spenden errichtet seine Hilfsorganisation Schulen, eine Universität, Kindergärten, Mutter-Kind-Kliniken, Krankenstationen sowie Ausbildungswerkstätten. Spenden: Kinderhilfe Afghanistan Iban: DE08 7509 0300 0001 3250 00 Bic: GENODEF1M05 Text/FOTO: AZ