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WASHINGTON
Der Kampf für Gleichheit ist nicht zu Ende

Von unserem Korrespondenten

JENS SCHMITZ

 |  aktualisiert: 25.08.2013 19:43 Uhr

„I have a dream“: Vor 50 Jahren sprach Martin Luther King diesen legendären Satz. Inzwischen gibt es zwar einen farbigen Präsidenten in den USA. Aber auch nach wie vor rassistische Tendenzen.

Wenn John Lewis auf den Balkon seines Amtszimmers tritt, schaut er zwischen Marmorsäulen und Grünanlagen geradewegs aufs Kapitol. Seit 1987 sitzt der schwarze Demokrat im Repräsentantenhaus; mit seinen 73 Jahren kann er das manchmal selbst kaum glauben. „Wenn es Martin Luther King nicht gegeben hätte, weiß ich nicht, was aus Amerika geworden wäre. Oder aus mir selbst“, sagt der bedächtige Mann. „Wenn mir vor 50 Jahren jemand erzählt hätte, dass ich ein Kongressabgeordneter werden würde, mit einem Büro auf dem Kapitolshügel – ich hätte gesagt: unmöglich.“

Lewis muss es wissen: Er hat mit auf der Bühne gestanden, als King am 28. August 1963 seine berühmte „I have a dream“-Rede hielt. Am anderen Ende der National Mall war das, jener großen Rasenfläche, die Washingtons Staatsbauten trennt. Lewis war damals 23 und vertrat das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), eine der sechs großen Bürgerrechtsorganisationen, die den Marsch auf Washington organisiert hatten. Er war der jüngste der zehn Redner, die am Denkmal von Abraham Lincoln Gleichberechtigung für Amerikas Schwarze forderten.

In diesen Tagen, 50 Jahre nach dem historischen Marsch auf Washington, sind in der US-Hauptstadt erneut Zehntausende Menschen für die Gleichberechtigung der Schwarzen auf die Straße gegangen. Sie erinnerten an den legendären Satz Martin Luther Kings und machten darauf aufmerksam, dass es auch heute noch in den USA Diskriminierungen ethnischer Minderheiten gibt.

250 000 Zuhörer hat Martin Luther King an jenem Tag 1963, der ihn und einen Satz weltberühmt machen: Die „I have a dream“-Rede des Baptistenpredigers beeinflusst bis heute die Art, wie in den USA öffentlich gesprochen wird. Fast die gesamte Erinnerung an den Tag wird von ihr dominiert.

John Lewis ist heute selbst eine Institution. Zwei Dutzend Mal wurde er bei Demonstrationen festgenommen, 1965 von der Polizei in Alabama fast getötet. Nachdem er King als junger Mann bei der Suche nach einem Studienplatz um Hilfe gebeten hatte, wurde er zum Ziehsohn des Schwarzenführers. Heute hat Lewis nicht nur ein Mandat in der Spitzenpolitik. Er ist auch der einzige Redner des Marsches, der noch lebt.

Die Veranstaltung damals war die größte Demonstration, die es in den USA bis dahin gegeben hatte. Nicht zuletzt der demokratische Präsident John F. Kennedy hatte Angst, dass es zu chaotischen Szenen kommen würde. Die Wahl- und Bürgerrechtsinitiativen, die seine Regierung dem Kongress vorlegen wollte, waren ohnehin schon Kompromisse, das Verhältnis zu den Südstaaten war bedrohlich gespannt.

„Wir sind zu zehnt auf den Kapitolshügel gegangen und haben uns mit der Führung des Repräsentantenhauses getroffen“, erinnert Lewis sich an den Tag. Danach wiederholte sich das im Senat. Es ging nicht nur um politische Forderungen. Die Amtsträger hatten die Manuskripte gelesen und wollten wissen, ob Lewis seine Rede geändert habe. „Geduld ist ein schmutziges und böses Wort“, wollte er wettern und Märsche durch den Süden des Landes androhen. Vorerst kam es zu keiner Einigung.

„Nachdem dieses Treffen vorbei war, sind wir die Constitution Avenue hinuntergegangen, um den Marsch anzuführen. Aber als wir dort ankamen, hatten sich die Menschen längst in Bewegung gesetzt!“ Die Anführer wurden mitgerissen: zum Washington Monument, dem Obelisken in der Mitte der Mall, und schließlich zum Lincoln Memorial, wo die eigentliche Kundgebung stattfinden sollte.

Hier oben erst überredeten Martin Luther King und der Hauptorganisator Asa Philip Randolph den 23-Jährigen, seine Rede zu mildern. Von Harry Belafonte über Sammy Davis jr. bis Charlton Heston waren aus dem ganzen Land Prominente eingeflogen. Als Redner waren nur Männer vorgesehen, aber im künstlerischen Teil des Programms traten Joan Baez und Mahalia Jackson auf. Jackson war es auch, die dem Tag zu seinem ungeplanten Höhepunkt verhalf: In Kings vorbereiteter Rede fehlten jene Passagen, die am berühmtesten geworden sind. Aber gegen Ende seines Texts rief Jackson: „Erzähl ihnen vom Traum, Martin!“ King improvisierte das Ende seiner 17-minütigen Ansprache mit jener Zukunftsvision, die er schon oft beschworen hatte: I have dream! „Ich habe immer noch einen Traum. Es ist ein Traum, der tief im amerikanischen Traum verwurzelt ist.“

Die Formulierung wurde zum Mantra, erfasste die Menschen vor Ort und am Fernseher daheim: „Ich habe einen Traum, dass dieses Land eines Tages aufstehen und der wahren Bedeutung seines Glaubens gerecht werden wird“, rief King, „dass alle Menschen gleich geschaffen sind.“ Anklänge an die Bibel, an die Unabhängigkeitserklärung, an die amerikanische Verfassung, an Lincolns Rede von Gettysburg – King appellierte an alles, was das amerikanische Selbstverständnis ausmacht.

„Er ist verdammt gut“, soll Kennedy vorm Bildschirm gemurmelt haben. King sprach zu Füßen der Statue von Lincoln, der die Sklaverei abgeschafft und die Nation dennoch zusammengehalten hatte. Und er fand einen Ton, der viele an einen Gottesdienst erinnerte. „Er geriet in diesen Rhythmus“, schwärmt Lewis bis heute. „Und dann sprach er über ,Lasst Freiheit erschallen‘. Es war Musik.“

Ob Kennedy davon begeistert war, dass King als moralischer Führer des Landes vorgestellt wurde, ist nicht überliefert. Aber als die zehn Organisatoren ihn am Abend im Weißen Haus noch einmal besuchten, strahlte er übers ganze Gesicht: „Er ging die Reihe entlang, schüttelte unsere Hände und sagte: Gut gemacht, gut gemacht!“, erinnert sich Lewis. „Und als er zu Dr. King kam, sagte er: ,Und Sie hatten einen Traum.‘ Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah.“

Es gehört zu den bitteren Ironien der Geschichte, dass der Civil Rights Act erst 1964 durch den Kongress gedrückt wurde, als Kennedy erschossen war. Der Voting Rights Act von 1965 verdankt sein Zustandekommen nicht zuletzt dem „Bloody Sunday“ von Selma (Alabama), bei dem Lewis von der Polizei fast erschlagen wurde.

Der Schwarzenführer Malcom X hatte den Marsch schon 1963 als scheinharmonische „Farce von Washington“ abqualifiziert. Seine Anhänger fühlen sich heute bestätigt: Für sie ist von Kings Rede kaum etwas übrig als eine zahnlose Utopie, obwohl die FBI-Spitze ihn danach als den gefährlichsten Schwarzen betrachtete.

„Mir geht das Gerede von ,Ich habe einen Traum‘ entsetzlich auf die Nerven“, sagt der Dozent und Publizist Peter Bailey. „Es wird dem Mann nicht gerecht. Er hatte keine Kumbaya-Vision! Er hat wirtschaftliche Ungerechtigkeit bekämpft!“ Bailey gehört zu den Mitbegründern der Organization of Afro-American Unity um Malcolm X; er pocht darauf, dass der Marsch auf Washington eigentlich Marsch für Jobs und Freiheit hieß – zu seinen Zielen gehörten so konkrete Forderungen wie ein Mindestlohn. Die ersten Passagen von Kings Rede sind auch weit drängender als der visionäre Schluss. Im Hinblick auf die Schwarzen seien die Versprechungen der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung ungedeckte Schecks geblieben, hatte King gesagt. „Also sind wir gekommen, diesen Scheck einzulösen!“ King forderte Teilhabe am Wohlstand. „Es wäre tödlich für das Land, die Dringlichkeit des Moments zu übersehen“, sagte er.

„Er hat nicht ein einziges Mal gelächelt“, erinnert sich Bailey, der damals unter den Zuschauern stand. „Aber hört man diese Passagen jemals?“ Der 75-Jährige ist nicht der Einzige, der glaubt, dass Kings Erben ihren Vorfahren entmannt haben, um einen Feiertag für ihn durchzusetzen. Als einziger Nicht-Präsident hat King heute ein großes Denkmal am Tidal Basin beim Potomac, eine Inschrift am Lincoln Memorial erinnert an seine Rede.

„Es gibt eine Tendenz, seine Rolle in der Bewegung zu romantisieren“, räumt der Abgeordnete Lewis ein. Auch das Magazin „Time“ hat in einer aktuellen Sondernummer einen entrückten Ton angeschlagen: „Der Traum, von dem Dr. King sprach, war weniger ein Traum, den man auf dieser Seite des Paradieses verwirklichen könnte, als eine prophetische Vision“, schreibt das Blatt. Ja, King wird oft weicher gezeichnet, als er war. Aber er hat auch eine Bedeutung über die Schwarzen-Bewegung hinaus: Er hat die USA an den Kern ihres Wertekanons erinnert. Der Historiker Taylor Branch nennt ihn in seinem Buch „Parting the Waters“ nicht ohne Grund einen neuen Gründervater. Und King hat seinen Zuhörern Geduld eingeschärft: „Während wir unseren rechtmäßigen Platz erringen, dürfen wir keiner falschen Taten schuldig werden“, sagte er. Der Satz stand, bis die Ermordung Kings 1968 landesweite Unruhen auslöste.

Und heute? Das mittlere Einkommen für Schwarze in den USA liegt heute bei 21 000 Dollar im Jahr, Weiße verdienen 27 000 Dollar. Afro-Amerikaner sind immer noch doppelt so häufig arbeitslos wie ihre hellhäutigen Mitbürger. Sie brechen häufiger die Schule ab, haben eine niedrigere Lebenserwartung und besitzen seltener eine eigene Unterkunft. Aber: Bei all diesen Werten ging die Schere einst weiter auseinander. 1964 gab es gerade einmal 234 000 schwarze College-Studenten, heute sind es 2,5 Millionen. Der schwarze Anteil an der Bevölkerung wächst. Und anders als bei der Gesamtheit der Bürger ist die Wahlbeteiligung der Afro-Amerikaner seit 1964 gestiegen.

Die Veränderungen seit Martin Luther Kings Rede sind schwer zu messen. Das markanteste Zeichen ist für viele, dass zum 50. Jahrestag ein schwarzer Präsident im Weißen Haus residiert, einer, der seinen Eid auf die Bibeln von Lincoln und King geschworen hat. „Obama verkörpert Kings Traum“, titelte die Washington Post im Januar. Sie fuhr aber fort: „wenn man das meiste davon vergisst.“

Für Menschen wie Asa Peter Bailey ist es keine Überraschung, dass Obama für keine Gruppe so wenig getan hat wie für die Afro-Amerikaner – er könne das Wort schwarz gar nicht sagen, ohne Gefahr zu laufen, als Lobby-Präsident abgestempelt zu werden. Bailey hält politische Repräsentation für ein Feigenblatt. Stattdessen hofft er auf eine ökonomische Bewegung: Mit 14 Prozent Anteil an der Bevölkerung und 600 Milliarden Dollar Gesamteinkommen könnten die Afro-Amerikaner durchaus Einfluss nehmen. „Aber wir haben uns bislang nicht diszipliniert gezeigt.“

Lewis sieht die Dinge pragmatischer. Auch ihn erfüllt der Tod Trayvon Martins mit Sorge, auch er hat registriert, dass das oberste US-Gericht in diesem Jahr Teile jenes Wahlrechts außer Kraft gesetzt hat, das der Marsch auf Washington zu initiieren half. „Ich denke, der Kongress wird hier überparteilich zusammenkommen und den Schaden reparieren“, sagt Lewis.

Vor allem glaubt er nicht, dass Fortschritt etwas ist, was nur Schwarze betrifft: „Niemand darf zurückgelassen werden.“ Chancengleichheit gibt es bis heute nicht, das weiß auch Lewis. Aber eine Mehrheit beider Rassen im Land sagt inzwischen, die Beziehungen seien eher gut. Und die nächste Generation ist an eine farbige Präsidentenfamilie gewöhnt.

In diesem Sommer fand Barack Obama einige sehr persönliche Sätze zu seinen Erfahrungen als Schwarzer; die bisherige Zurückhaltung verhalf ihnen zu besonderer Wucht. „Wenn jemand mir sagt, es habe sich nichts verändert, dann antworte ich: Geh ein paar Schritte in meinen Schuhen“, sagt Lewis. Das Land sei besser und auch die Menschen darin, glaubt der Mann mit den Polizeistocknarben am Schädel. „Wir haben große Fortschritte gemacht. Diese Schilder, die sagten: weiß oder farbig – sie sind verschwunden.“

Als John Lewis am Lincoln Memorial stand, war Obama zwei Jahre alt. Als er zum Präsidenten gewählt wurde, weinte Lewis hemmungslos wie ein Kind. Heute bewahrt er eine Karte auf, die er dem frischgebackenen Staatsoberhaupt bei der Amtseinführung 2009 zum Signieren gab. Die Worte darauf fassen ein Leben zusammen: „Deinetwegen, John. Barack Obama.“

 
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