Für den neuen türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan wird die regionale Bedrohung durch die Dschihadisten-Gruppe Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak zum ersten großen außenpolitischen Problem seiner Amtszeit. Beim Nato-Gipfel in dieser Woche und beim Ankara-Besuch von US-Verteidigungsminister Chuck Hagel nächste Woche dürfte Erdogan mit der Forderung der westlichen Partner nach entschiedeneren Schritten gegen den IS konfrontiert werden; die westlichen Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden bergen ebenfalls Streitpotenzial. Zudem steht der Verdacht im Raum, Ankara habe die Extremisten zumindest zeitweise unterstützt.
Westliche Diplomaten hatten sich in jüngster Zeit kritisch über den laschen Umgang der türkischen Regierung mit dem IS geäußert. Unter dem Eindruck der Kritik hatten die Behörden zuletzt die Kontrollen entlang der 900 Kilometer langen Grenze zu Syrien verstärkt. IS-Kämpfer berichteten, dass sie nicht mehr so problemlos über die Grenze gelangen könnten wie vorher. Gestoppt ist der IS-Grenzverkehr aber nicht. Die Dschihadisten, die sich auf syrischer Seite in einigen Bereichen der Grenze festgesetzt haben, bringen Nachschub und Kämpfer über die Türkei nach Syrien; gleichzeitig verdienen sie am Schmuggel in die andere Richtung.
Der ehemalige US-Nato-Botschafter Nicholas Burns forderte US-Präsident Barack Obama auf, er solle Druck auf den türkischen Präsidenten machen. Ankara müsse mit besseren Grenzkontrollen verhindern, dass der IS mit dem Schmuggel von Öl aus Syrien in die Türkei weiter Geld verdiene, schrieb Burns in der „Financial Times“. Nicht nur Burns ist misstrauisch. Nach Angaben der türkischen Opposition verdienen die Dschihadisten viel Geld mit dem Verkauf von geschmuggeltem Diesel in der Türkei und legen Teile des Gewinns im Kauf von Häusern in der Türkei an, die zu Ausbildungszentren umfunktioniert werden. Mahmut Tanal, Parlamentsabgeordneter der Oppositionspartei CHP, verlangt von der Regierung Aufklärung darüber, wie es sein könne, dass der IS pro Tag rund 4000 Tonnen Schmuggel-Diesel in die Türkei einschleusen könne. Laut Tanal bedroht der IS inzwischen türkische Lokalpolitiker, die sich öffentlich über den Schmuggel beschweren.
Gemessen an seiner gewohnt rauen Rhetorik äußert sich Erdogan in Sachen IS sehr zurückhaltend. In einem Interview mit dem Sender Al-Dschasira appellierte er jetzt an die Dschihadisten, die seit Juni im Irak festgehaltenen 49 türkischen Geiseln freizulassen. Es gehe nicht an, dass sich der IS als muslimisch bezeichne, gleichzeitig aber Muslime als Geiseln halte. Das am Montag vorgestellte Regierungsprogramm des neuen Premiers erwähnt den IS nicht namentlich und verweist nur auf „Terrororganisationen und gewaltbereite Gruppen“ im Irak und in Syrien, die von einem Machtvakuum in beiden Staaten profitierten.
Ob hinter dieser Zurückhaltung die Sorge um das Leben der Geiseln steckt, wie die Regierung sagt, oder irgendeine Form der Kooperation, wie die Opposition behauptet, lässt sich derzeit nicht sicher beantworten. Regierungssprecher Bülent Arinc sagte am Montag, Ankara kenne den Aufenthaltsort der Geiseln, doch sei eine Befreiung der Gefangenen derzeit nicht möglich.
Auch in der Frage der westlichen Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden hält sich die türkische Führung bisher zurück. Die Möglichkeit, dass westliche Waffen im Nordirak an die kurdische Rebellengruppe PKK gelangen könnten, sorgt für Unruhe in Regierungskreisen.