Vor einem Jahr überschlugen sich die Siegeshymnen. „Der Traum der Freiheit ist Wirklichkeit geworden“, deklamierte der damalige irakische Premier Haider Abadi. Ganz Irak sei vom Islamischen Staat gesäubert, jubelte Bagdad, nachdem das russische Oberkommando zwei Tage zuvor das Ende des Kalifates auf syrischer Seite ausgerufen hatte. Drei Jahre hatte die Völkerschlacht der „Unheiligen Allianz“ aus Arabern, Kurden, Iranern, Russen, Amerikanern und Europäer gegen den „Islamischen Staat“ gedauert. Kampfjets flogen mehr als 30 000 Angriffe. 100 000 Soldaten, kurdische Peschmerga und schiitische Milizen standen auf irakischer Seite an der Front. Auf syrischer Seite kämpften die von den USA unterstützten kurdisch-arabischen Brigaden Seite an Seite mit Assad-Truppen und russischen Söldnern. Doch inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt.
Vor allem in den Provinzen Niniveh, Kirkuk, Diyala und Anbar macht der IS wieder mobil. Immer häufiger kommt es zu Entführungen, falschen Straßensperren und Bombenanschlägen. 75 Terroraktionen registrieren die irakischen Behörden derzeit pro Monat, das sind mehr als während der Schlussphase des „Islamischen Kalifates“ im Jahr 2016. Lokale Politiker werden ermordet, um Chaos zu säen und den Wiederaufbau der Wirtschaft zu torpedieren. „Mögen die Sicherheitskräfte auch tagsüber präsent sein, die Nacht gehört dem IS“, klagen die Bewohner.
Großoffensive gestartet
Auf syrischer Seite verteidigen die Dschihadisten seit einem Jahr ihre letzte Enklave rund um das Euphrat-Städtchen Hajin. Ende November starteten sie eine Gegenoffensive und töteten mehr als 90 Angehörige der Syrisch-Demokratischen Streitkräfte (SDF), die von US-Spezialisten trainiert werden. 30 Soldaten gerieten in IS-Gefangenschaft und wurden auf Propaganda-Kanälen im Internet vorgeführt – der bisher schwerste Verlust für die von den USA ausgerüsteten arabisch-kurdischen Brigaden, die diese Woche einen ersten Sturmangriff auf Hajin versuchen. Mindestens 3000 Kämpfer vermuten westliche Nachrichtendienste in dem dünn besiedelten Gebiet, die Mehrzahl Ausländer, darunter auch Deutsche.
In dem 50 Quadratkilometer großen Kalifatsrest, der gespickt ist mit Minen, Sprengfallen und Tunneln, hält sich wahrscheinlich auch der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi versteckt. Und so mahnte kürzlich Maxwell B. Markusen vom „Center for Strategic and International Studies“ in Washington zu mehr Nüchternheit. „Amerikanische und irakische Politiker haben vor einem Jahr den Sieg über diese Gruppe erklärt und behauptet, diese sei zerschlagen und ausradiert.“ Doch davon könne keine Rede sein, schrieb der Politologe. In Mossul explodierte kürzlich vor einem populären Restaurant die erste Autobombe seit der Befreiung der Stadt vor anderthalb Jahren und tötete drei Gäste. Nach wie vor verstecken sich Schläferzellen in den Wohnvierteln, die von den Bewohnern gefürchtet sind.
Frustration und politische Lähmung
Gleichzeitig hat die Disziplin der Sicherheitskräfte stark nachgelassen, Korruption und Schlendrian grassieren wieder wie eh und je. „Es gibt zahlreiche konkurrierende Befehlshaber, die sich nicht untereinander koordinieren“, kritisierte der Abgeordnete Ahmed al-Jarba aus Mosul. Wie schon vor seinem Aufstieg im Sommer 2014 profitiert der IS auch jetzt wieder von der Frustration der Bevölkerung und der politischen Lähmung in Bagdad. Der Wiederaufbau der Trümmerstädte kommt nicht voran. Zwei Millionen Iraker hausen in Flüchtlingslagern. Der Süden erlebte im Sommer einen regelrechten Volksaufstand, als Zehntausende gegen Korruption, Stromausfälle und verseuchtes Trinkwasser rebellierten.
Der Weltbank zufolge werden für den Wiederaufbau fast 80 Milliarden Euro benötigt. In der Hauptstadt Bagdad dagegen streiten die Parteien weiter ungerührt über das neue Kabinett. Iraks Innenpolitik ist durch den Streit um die Macht blockiert. Im Mai hatten die Iraker ein neues Parlament gewählt. Abdel Mahdi konnte zwar ein Kabinett bilden, wichtige Ministerposten in seiner Regierung sind aber weiter unbesetzt. Bislang konnten sich die beiden größten Blöcke nicht auf Kandidaten einigen.
Relativ intakte Organisationsstruktur
Trotz der hohen IS-Verluste schätzt das Pentagon die Zahl der Dschihadisten in Irak und Syrien nach wie vor auf 20 000 bis 30 000, das sind in etwa so viele wie zu Beginn des Kalifates. Die Organisationsstruktur sei relativ intakt, die Gruppe finanziell gut gepolstert, heißt es in der Studie. „Wir sind nie von einem raschen Sieg ausgegangen“, erläuterte Oberst Sean Ryan, Sprecher der Anti-IS-Koalition in Bagdad. „Dennoch hat sich das Ganze als langwieriger und schwieriger entpuppt als gedacht.“ Das Kalifat sei dabei, prognostiziert das US-Verteidigungsministerium, wieder aufzuerstehen als Guerilla-Bewegung. Und deren Chefideologen propagieren jetzt einen „langen Krieg“ gegen die Feinde, an dessen Ende Allah seinen Getreuen den Sieg schenke.