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PARIS
Der Historiker Alfred Grosser zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 11.12.2019 14:51 Uhr

Am Freitag jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal – Alfred Grosser, französischer Historiker mit deutsch-jüdischen Wurzeln, leitet bis heute einen Auftrag an die Deutschen als Lehre der Geschichte ab. Doch vor Vereinfachungen warnt er. Ein Gespräch in Paris.

Frage: Vor genau 70 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg. Was war das für Deutschland – eine Befreiung oder eine Niederlage?

Alfred Grosser: Deutschland ist untergegangen, aber auch gerettet worden. Die schönste Rede, die ein Bundespräsident je gehalten hat, war die von Walter Scheel, der 1975 gesagt hat, der 8. Mai war beides zugleich: eine Befreiung und eine Katastrophe. Es war ein radikaler Neuanfang für die Freiheit in Deutschland. Ohne die Westalliierten und die Rote Armee gäbe es sie nicht. Momentan wird ja viel gefeiert, die Kanzlerin war kürzlich in Dachau zum Gedenken an die Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers. Doch mich hat schockiert, dass heute so getan wird, als sei das ein Judenlager gewesen. Es wird nicht gesagt, dass die KZs in Dachau, genauso wie in Buchenwald, für deutsche Häftlinge eingerichtet wurden, lange bevor die ersten Ausländer zum Leiden und zum Sterben eintrafen. Man übergeht, dass es den deutschen Widerstand gab. Die Alliierten haben alles dafür getan, dass kein Widerstand anerkannt wurde. Denn sonst hätten sie ja sagen müssen, dass nicht ganz Deutschland schuldig war und Hitler gefolgt ist, sondern nur ein Teil.

Aber die Deutschen waren doch diejenigen, die Hitler an die Macht gebracht haben?

Grosser: Ja, und das ist der große Unterschied zu Amerika: Die Krise war zu dieser Zeit ungefähr dieselbe, die Arbeitslosigkeit ungefähr gleich hoch, aber Roosevelt war nicht Hitler. Und er hat Amerika mit demokratischen Methoden wieder groß gemacht. Natürlich muss man nachforschen, warum Hitler in Deutschland möglich war. Aber die Behauptung einer angeblichen Kollektivschuld der Deutschen war die erste große Sünde von Günter Grass. Es gab keine Kollektivschuld, das wurde auch bei den Nürnberger Prozessen klar gesagt. Dort hieß es: Organisationen wie die Gestapo und die SS sind kollektiv schuldig, aber jedem einzelnen Angeklagten muss die Schuld nachgewiesen werden. Gerade weil es für die Amerikaner keine Unschuldigen gab, höchstens Entlastete, sind viele überhaupt nicht bestraft worden. Die zweite Sünde von Grass war zu kritisieren, dass Ronald Reagan und Helmut Kohl 1985 gemeinsam den Soldatenfriedhof in Bitburg besucht haben, wo auch SS-Soldaten begraben liegen. Grass war selbst bei der Waffen-SS, genauso wenig freiwillig wie 900 000 junge Deutsche, die in die Armee einberufen worden waren. Die Verbrechen der Wehrmacht im Namen von Hitler-Deutschland waren furchtbar, aber es gab auch schwere Kriegsverbrechen der Alliierten, wie die Bombardierungen von Hamburg oder von Dresden. Es wird nicht genug differenziert.

Wie sollen Deutsche heute mit dieser Geschichte umgehen, die zu ihrem Land gehört?

Grosser: Ich bin oft in Schulen in Deutschland, um mit den Jugendlichen dort zu sprechen. Wenn dann die Frage kommt: Was geht uns das heute noch an?, dann habe ich eine einfache Antwort: Es gibt eine Last der Geschichte, die euch dazu verpflichtet zu bedenken, dass die Bundesrepublik das einzige Land in Europa ist, das nicht auf dem Gedanken der Nation aufgebaut wurde. Sondern auf einer politischen Ethik, nämlich der doppelten Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und Stalin in der Nachbarschaft. Deshalb müsst ihr aufmucken, wenn irgendwo in der Welt Menschenrechte verletzt werden. Unter anderem in Palästina. 2005 sagte der damalige Bundespräsident Horst Köhler vor der Knesset: Die Würde des Menschen zu achten, ist ein Auftrag an alle Deutschen und sie müssen überall dort für sie eintreten, wo sie verletzt wird. Ich dachte sofort an die Palästinenser. In meinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem“ beschreibe ich, wie Deutschland von Israel erpresst wird. Sobald ein Deutscher Israel kritisiert, heißt es: Im Namen von Auschwitz darf er das nicht. Im Namen von Auschwitz sollte man Israel auch keine Unterseeboote liefern.

Wie hat die junge Bundesrepublik nach dem Krieg den Weg in die Demokratie gefunden?

Grosser: Zunächst einmal gab es ja keine Bundesrepublik. Deutschland wurde die Souveränität weggenommen. Es hatte keinen Außenminister und keine diplomatischen Vertreter, weil es keinen Staat gab. Der entstand 1949 als Bundesrepublik und im Oktober desselben Jahres dann die DDR. Beide Staaten waren juristisch gesehen gleich legitim oder illegitim, nur war die eine Seite frei, die andere nicht. Kanzler Konrad Adenauer begrüßte den Schuman-Plan für eine Montanunion im Mai 1950 offiziell wegen Europa, aber in Wirklichkeit bedeutete das einen enormen Schritt zur Gleichberechtigung, die man verloren hatte.

Vermissen Sie im heutigen starken Deutschland das Bewusstsein, dass es die Alliierten waren, die ihm ermöglicht haben, wieder ein gleichberechtigter Partner zu werden?

Grosser: Gegenüber Amerika gab es lange eine übertriebene deutsche Dankbarkeit. Amerika hat mit der Luftbrücke Berlin gerettet und ihm mit dem Marshallplan beim Wiederaufbau geholfen. Das rechtfertigt aber nicht, dass man zu allem Ja sagt, bis hin zur Hilfe bei der Wirtschaftsspionage durch den BND. Kanzler Gerhard Schröder war mit dem Nein zum Irak-Krieg der Erste, der gegen Amerika rebelliert hat, und zu Recht. Aber leider wird auch oft in Deutschland vergessen, wie es dazu kam, wieder reich zu werden. Auch ist wenig bekannt, wie sehr andere gelitten haben. François Hollande hat als erster französischer Präsident an die 30 000 Opfer in den französischen Landungsgebieten erinnert. Ich war 1943/1944 in Marseille: Dort starben an einem einzigen Tag 3000 Menschen durch Luftangriffe der Amerikaner. Auch von der schlimmen Hungersnot in Frankreich nach dem Krieg spricht niemand.

Alfred Grosser

Der Historiker, Politologe und Publizist wurde in Deutschland geboren. Er gilt als wichtige Persönlichkeit für die deutsch-französische Verständigung, als ebenso unerbittlicher wie humorvoller Mahner – er selbst nennt sich einen „Aufklärer“. Als Kind floh er mit seiner Familie, deutschen Juden, vor den Nazis nach Frankreich und besitzt seit 1937 die französische Staatsbürgerschaft. Grosser lehrte an zahlreichen Universitäten, schrieb und schreibt für Zeitungen auf beiden Seiten des Rheins und hat mehrere geschichtliche, aber auch autobiografisch geprägte Werke über Frankreich, Deutschland und Israel verfasst. Über ein Glückwunsch-Schreiben zu seinem 90. Geburtstag am 1. Februar hat sich Alfred Grosser besonders gefreut: Es stammte von seinem Freund Richard von Weizsäcker. Der ehemalige Bundespräsident hatte den Brief etwas vorher und damit unmittelbar vor seinem Tod am 31. Januar abgeschickt. FOTO: dpa

 
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