„England folgt den Regeln, wir stehen etwa Schlange. Frankreich dagegen ignoriert die Regeln. Die Deutschen machen
ihre eigenen.“
Da redeten sie und diskutierten und stritten wochenlang hinter verschlossenen Türen der Downing Street. Doch einig wurden sich die konservative Regierung unter Premierministerin Theresa May und die Spitze der Labour-Partei offenbar nur selten. Und so kam es am Freitag auch nicht als Paukenschlag daher, dass der Oppositionsführer Jeremy Corbyn die Gespräche über einen Kompromiss im Brexit-Streit für gescheitert erklärte.
In Westminster-Kreisen hatte man das schon erwartet. „Wir waren nicht in der Lage, gewichtige politische Differenzen zwischen uns zu überbrücken“, schrieb Corbyn in einem Brief an May. Die Verhandlungen seien „so weit gegangen wie es möglich war“, doch aufgrund der „zunehmenden Schwäche und Instabilität“ der Regierung könnte man sie nicht weiterführen. „Für die Premierministerin bedeutet dies einen weiteren Rückschlag in ihrer Negativ-Serie. Welche Optionen bleiben ihr jetzt noch, um das gefühlt unendliche Brexit-Drama zu einem vorläufigen Ende zu bringen? Ende März hatte sie – für etliche Beobachter viel zu spät – die überparteilichen Gespräche eingeleitet, nachdem das zwischen London und Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen dreimal im Parlament krachend gescheitert war. In der Folge gewährte die EU zweimal eine Verlängerung der Scheidungsfrist.
Mays Hoffnung, dass sie den Deal Anfang Juni vom Unterhaus gebilligt bekommt, um so zu verhindern, dass britische Europaabgeordnete am 2. Juli ihr Mandat antreten, dürfte mit Corbyns Absage dahin sein. Zu sehr ist die von ihr geführte Minderheitsregierung auf die Unterstützung der Sozialdemokraten angewiesen. Zu groß sind die Streitereien innerhalb der konservativen Partei über den richtigen Brexit-Kurs.
Und zu massiv steht May unter Druck der Rebellen in den eigenen Reihen, die ihren Abgang fordern. Noch in diesem Sommer, so versprach sie jetzt, würde sie den Zeitplan für ihren Rückzug festsetzen. Ob die Ankündigung die aufgeregten Gemüter beschwichtigt? Seit Monaten bringen sich mögliche Nachfolger in Stellung. So hatte erst am Donnerstag der ehemalige Außenminister Boris Johnson, seines Zeichens Brexit-Wortführer und Sprachrohr der Hardliner, seine Ambitionen bestätigt. „Natürlich werde ich mich bewerben“, sagte er. „Das dürfte kein Geheimnis sein.“
Gefahr droht aber auch aus einer anderen Richtung. Nigel Farage tritt derzeit beinahe täglich in der Provinz auf, der lauteste Schreihals aller Brexit-Schreihälse, Schreckgespenst der konservativen Partei und Hassfigur aller Europafreunde. Früher galt er auch als Oberbiertrinker der Nation, gerne fotografiert mit Pint in der Hand im Pub, dieser englischsten aller englischen Institutionen. Dieser Tage trinke er nicht mehr, erzählt Farage jedem, der es hören und nicht hören will. Doch hängen bleiben soll, dass er sein Image geändert hat. Nicht mehr Clown und Kumpel möchte er sein, auch nicht Gesicht der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip, die mit Anti-Einwanderungsrhetorik viele abschreckt; dafür als seriöser Politiker der von ihm neu gegründeten Brexit Party auftreten, der es aber, da bleibt er sich treu, noch immer denen da oben zeigen will.
Die da oben sind die Karriere-Politiker, die angeblich „Verrat“ begehen, weil sie den Brexit noch nicht geliefert haben. Farages Comeback transportiert eine einzige Botschaft: Raus aus der EU und zwar sofort. Geschenkt, dass der 55-Jährige selbst Teil des Establishments ist, immerhin seit 20 Jahren Abgeordneter im Europaparlament, ehemaliger Broker, nettes Haus in London, solche Dinge.
„No more Mr. Nice Guy“, droht Farage dem Parlament im fernen Westminster und zuvorderst Premierministerin Theresa May. Wann immer er ihren Namen ausspricht, buht die Halle – die konservative Regierungschefin als gemeinsames Feindbild und Zielscheibe der giftigen Wortpfeile. Laut Umfragen werden die Tories bei den Europawahlen eine historische Schlappe erleben, die Brexit Party dagegen mit mehr als 30 Prozent einen überwältigenden Sieg feiern.
„Es geht nicht um links oder rechts, dafür um richtig statt falsch“, ruft Nigel Farage und vergisst zu erwähnen, wie denn das politische Programm jenseits des Brexit aussehen könnte. Statt Substanz liefert er Emotionen, das verfängt. Denn es herrscht Wut. Frustration. Ärger unter den Versammelten, viele ehemalige konservative Wähler, Unternehmer und Rentner, einige Ex-Labour-Anhänger sind ebenfalls darunter.
Sie alle bevorzugen einen ungeregelten Brexit ohne Deal. „Der Gewinner bestimmt, das ist Demokratie“, sagt Graham Garrett. Der 65-jährige lebenslange Anhänger der Tories kam mit seiner Frau aus Kingsley in Norfolk angereist, hofft jetzt darauf, dass mehr Europaabgeordnete der Brexit Party auf den Kontinent entsandt werden, „um Ärger in Europa anzuzetteln“.
Garrett ist jemand, der immer nur England sagt, wenn er vom Vereinigten Königreich spricht. Zum Beispiel als er erklärt, warum die Sache mit der EU-Mitgliedschaft niemals gut enden konnte: „England folgt den Regeln, wir stehen etwa Schlange. Frankreich dagegen ignoriert die Regeln. Die Deutschen machen ihre eigenen. Spanien interessiert sich nicht für sie und die Griechen wollen nur mehr Geld.“ Seine Frau, sie stammt aus der Provinz Nordirland, nickt eifrig. Dass dort wieder geschossen und gewütet und getötet wird, blendet das Paar auf bemerkenswerte Weise aus.
Beide schlossen sich bereits Farages Bewegung an, wie mehr als 100 000 andere Menschen in den vergangenen Wochen. Die Plakate für das Wohnzimmerfenster, die im Anschluss an die Veranstaltung in Peterborough verteilt werden, gehen weg wie Freibier im Stadion vor einem Fußballspiel.
Eigentlich hätten die Europawahlen im Königreich nie stattfinden sollen, nachdem sich das Land Ende März aus der Staatengemeinschaft verabschieden wollte. Nun müssen die Briten am 23. Mai doch zur Urne. Ein Umstand, dem etwas zutiefst Absurdes anhaftet. Und als Symbol gilt für das Komplettversagen der britischen Politik, sich auf ein Austrittsabkommen zu einigen. Zweimal wurde deshalb der Scheidungstermin bereits verschoben. Derzeit ist es der 31. Oktober. Angesichts der Streitereien in Westminster streicht man sich den Tag besser nur mit Bleistift im Kalender an.
„Die Europawahl ist eine großartige Möglichkeit für kleine Parteien, einen Fuß in die Tür zu bekommen, sozusagen eine Startrampe in die Innenpolitik“, sagt Sara Hobolt, Politikwissenschaftlerin der London School of Economics and Political Science (LSE). Und Farage habe es clever angestellt, sich von der extremen Rechten zu distanzieren und stattdessen mit einer klaren Botschaft anzutreten. Gebt uns endlich unseren Brexit. „Die Tories dagegen sind intern gespalten und senden längst nicht mehr dieses Signal.“ Vielleicht verharren die Konservativen deshalb wie gelähmt in Westminster ohne Anstrengungen, den Wahlkampf zu bestreiten.