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Der ehemalige britische Außenminister kritisiert das Verhalten von Staaten
Margit Hufnagel
 |  aktualisiert: 17.12.2020 02:17 Uhr

Einst war David Miliband britischer Außenminister, heute ist er Präsident der Hilfsorganisation für Flüchtlinge und Kriegsopfer „International Rescue Committee“. Er appelliert an die Welt, zurück zu den Regeln der Diplomatie zu finden.

Frage: Herr Miliband, die ersten Flüchtlinge in Ihrem Leben waren Ihre eigenen Eltern. Ihr Vater und Ihre Mutter sind aus Belgien und Polen vor dem Holocaust geflohen. Wie hat das denn Ihr Leben beeinflusst?

David Miliband: Wie viele Überlebende des Holocaust wollten meine Eltern nicht, dass dieser Schatten ewig über ihren Kindern liegt. Ich wurde im Jahr 1965 geboren, also nur 20 Jahre nach Kriegsende. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass sich meine Eltern als Flüchtlinge bezeichnet hätten und mir das aufgezwungen hätten – im Gegenteil: Sie integrierten sich sehr schnell in die britische Gesellschaft.

Sie hatten also nie Zweifel, wohin Sie gehören?

Miliband: Nein, das war nie ein Thema. Meine Mutter hat auch nie darüber gesprochen, dass ihr Vater in einem Konzentrationslager umgebracht wurde. Sie selbst wurde erst in einem Kloster, dann von einer katholischen Familie gerettet und hat nur deshalb überlebt. Mein Vater, der noch nach vielen Jahren in Großbritannien einen leichten Akzent hatte, hat manchmal erzählt, wie er Belgien verlassen und sich später der Royal Navy angeschlossen hat. Kennengelernt haben sich die beiden nach dem Krieg in London. Man kann also sagen: Wenn Großbritannien damals keine Flüchtling aufgenommen hätte, wäre ich jetzt nicht hier.

Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. In Libyen tobt ein Krieg mit Milizionären. Die Türkei und Russland bombardieren Syrien. Wenn Sie all das sehen, blicken Sie dann pessimistisch in die Zukunft?

Miliband: Pessimistisch will ich nicht sagen. Denn wenn das schon Menschen wie ich sagen, die sich in einer komfortablen Lage befinden, was sollen dann diejenigen sagen, die um ihr Leben kämpfen? Aber ich bin sehr besorgt: Wir leben in einem Zeitalter der Straflosigkeit. Die Gesetzlosigkeit ist zur herausragenden Eigenschaft unserer modernen Welt geworden. Mächtige Staaten und nicht-staatliche Akteure können sich internationalen Gesetzen widersetzen – und kommen damit auch noch durch. Sie können sogar unsere Entwicklungshelfer, die Rettungseinsätze in Syrien unterstützen, ungestraft umbringen. Die Stärke des Rechts und die liberale Demokratie werden derzeit ganz besonders auf die Probe gestellt.

Wie lautet eigentlich die Konsequenz, die Sie daraus ziehen?

Miliband: Meine Botschaft lautet: Wir müssen die Krise der Diplomatie und die Angriffe auf humanitäre Helfer stärker in den Blick nehmen. Der Westen muss sich mehr anstrengen – in Syrien, in Libyen, in Afghanistan. Aber auch bei uns muss sich etwas ändern. Und das heißt nicht, dass Deutschland oder die USA alle Flüchtlinge aufnehmen müssen. Ohnehin werden acht von zehn Flüchtlingen in armen Ländern wie etwa Jordanien versorgt.

Glauben Sie, dass Deutschland noch einmal bereit ist, eine Führungsrolle in der Flüchtlingskrise zu übernehmen? Die politische und gesellschaftliche Stimmung hat sich stark gewandelt seit 2015.

Miliband: Deutschland ist eine der größten Wirtschaftsmächte in der Welt, eines der stabilsten politischen Systeme in Europa. Deshalb müssen wir von Deutschland eine Führungsrolle erwarten. Aber das heißt natürlich nicht, dass alle Flüchtlinge nach Deutschland kommen sollen. Deutschland muss eine diplomatische Führungsaufgabe übernehmen. Dass es das kann, hat es mit der Libyen-Konferenz in Berlin bewiesen – auch wenn eine einzige Konferenz natürlich nicht die Antwort auf alle Fragen bringen kann. Aber solche diplomatischen Maßnahmen sind sehr wichtig. Denn genau das fehlt in den Kriegsgebieten auf dieser Welt: Diplomatie. Deutschland kann außerdem Beispiel sein, wie Integration gelingen kann, wie Asylverfahren schnell abgeschlossen werden.

Deutschland versucht seit Jahren, die restlichen Europäer zu einem Kompromiss in der Flüchtlingsfrage zu bewegen – allerdings ohne großen Erfolg.

Miliband: Der Frust über diesen Stillstand beim europäischen Asyl-Paket ist gewaltig. Dieses sollte eigentlich verhindern, dass sich das Chaos von 2015 wiederholt. Es sollte sicherstellen, dass jeder, der in Europa einreist, registriert ist. Dass sich alle europäischen Länder beteiligen, entweder indem sie Flüchtlinge aufnehmen oder indem sie Geld bereitstellen. Dass das Dublin-System wieder funktioniert. Wenn Deutschland im Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, muss dieses Asyl-Paket endlich geschnürt werden. Und ein Teil dieses Pakets muss auch die organisierte Umsiedlung von Flüchtlingen sein. Europa muss zeigen, dass es legale Wege in Richtung Hoffnung geben kann. Denn wenn man den Menschen die legalen Wege versperrt, begeben sie sich in die Hände von Schleppern – und das hilft niemandem.

Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz will Flüchtlingscamps in Afrika bauen. Was halten Sie davon?

Miliband: Die Australier sind einen ganz ähnlichen Weg gegangen. Aber er ist nicht erfolgreich. Wir brauchen ein effektives System und das zu finden, würde in einem Drittstaat noch deutlich komplizierter werden. Europa muss sich die Verantwortung teilen, alles andere wäre unfair.

 
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