Wer im Bamberger „China Fan Imbiss“ eine Pekingente bestellt, bekommt ein Antidepressivum gratis dazu. Zumindest laut Thomas Kastura, Autor und Freund des Imbissbesitzers You Xie. Der quirlige Chinese nimmt sich Zeit für Gespräche mit seinen Gästen und hat immer ein Lächeln parat. Als „wandelndes Antidepressivum“ beschreibt Kastura ihn daher im Vorwort des Buches „Als Chinese in Bamberg“. Ein Buch, in dem der stadtbekannte Asiate auf Deutsch und Chinesisch über sich und sein Leben in der Weltkulturerbestadt erzählt. „Sohn, geh und lerne!“ Das war die Antwort seines Vaters, als You Xie ihm mitteilte, er würde China verlassen und zum Studieren nach Deutschland gehen. Es war einer der letzten Momente, wo er seinen Vater sehen sollte. Dass You Xie nie mehr in seine Heimat zurückkehren würde, ahnte anfangs niemand.
All seine Erlebnisse und Erfahrungen hat You Xie nun in einem Buch vereint. Es ist kein durchgehender Prosatext, was naheläge, denn Xies Leben ist so erlebnisreich, dass es durchaus Potenzial für einen Roman hätte. Allein die Zugfahrt durch China, die ehemalige Sowjetunion, Polen und die DDR bis nach Bamberg gäbe vermutlich genug Stoff, um einen ganzen Band zu füllen. Im Buch „Als Chinese in Bamberg“ wird sie nur in einem Satz erwähnt.
Vielmehr ist der über 100-seitige Band ein buntes Zusammenspiel von einzelnen Episoden aus seinem Leben: selbst geschriebene Gedichte, Gedanken, Reden und Kommentare. Dazwischen Impressionen, Bilder und Informationen zu Sehenswürdigkeiten in Bamberg. Die kurzen Passagen – kaum eine ist länger als zwei Seiten – sorgen für Pep und regen dennoch zum Nachdenken an. Besonders für Touristen sei sein Werk geeignet, um Bamberg kennenzulernen, findet You Xie. Doch nicht nur die Darstellungsformen, sondern auch der Inhalt des Buches ist vielfältig. Beruf, Erziehung, Religion, Politik, Verfall der Gesellschaft – das sind die Themen, über die der ausgebildete Journalist schreibt. Er schätzt die Pressefreiheit, die es in seinem eigenen Land nicht gibt. Denn You Xie steht auf der schwarzen Liste der Kommunistischen Partei Chinas. Seit 1989 darf er nicht mehr in sein Heimatland einreisen. Der Grund: Während der Demokratiebewegung, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurde, solidarisierte er sich mit unterdrückten Studenten und begann, kritische Texte zu veröffentlichen. Seither gilt er als Dissident.
Auf internationaler Ebene ist You Xie ein anerkannter Journalist und Denker. Vor drei Jahren wurde er von einer namhaften chinesischen Wochenzeitung neben Künstlern wie Ai Weiwei in die Auswahl der 100 einflussreichsten Intellektuellen Chinas gewählt. Dabei war es ihm lange Zeit verwehrt, die Schule zu besuchen. Acht Jahre war er alt, als Mao Tse-tung die Kulturrevolution ausrief. Keine Bildung, stattdessen arbeiten auf dem Feld. Erst zehn Jahre später, als Mao starb, kam die Wende zur Reform- und Öffnungspolitik. Xie durfte nun studieren, entschied die Kommunistische Partei Chinas. Das Studium sollte sein Leben prägen, denn er entschied sich für Germanistik. Nach seinem Grundstudium und ein paar Jahren als Dolmetscher bei VW in Shanghai, entschloss sich der junge Mann, mit seiner damaligen Freundin und heutigen Ehefrau Shenua Xie-Zhang nach Deutschland zu gehen. Nach Bamberg, weil ihn die Universität dort am schnellsten zum Studium zuließ. Von dort beobachtete er die Geschehnisse in seiner Heimat. Die Demokratiebewegung. Die Beerdigung seiner Mutter, die seines Vaters. „Wenn es möglich wird, will ich meine Geschwister besuchen. Mein Vater starb 1990, ich durfte nicht nach Hause. Ich will sein Grab sehen und persönlich pflegen,“ heißt es in seinem Buch.
Die Sehnsucht nach seinem Herkunftsland ist in einigen Texten spürbar. Nach China einreisen dürfte You Xie aber nur, wenn er einen Reuebericht abliefern würde. Das würde bedeuten, all seine kritischen Schriften und Äußerungen gegenüber dem Regime als unwahr darzustellen. „Das mache ich nicht“ – in dieser Hinsicht bleibt You Xie sich treu. Und weiß darum, dass sein Lebenstraum, eines Tages Chefredakteur einer großen Tageszeitung in China zu werden, wohl niemals in Erfüllung gehen wird.
Seine Meinung frei äußern zu können – das schätze Xie so an Deutschland. Als Herausgeber der Europaausgabe des christlichen Magazins „Overseas Campus“ ist ihm das möglich. Zudem schreibt er immer wieder Essays, Kurzgeschichten und hat bereits sieben Bücher auf Chinesisch und mit „Als Chinese in Bamberg“ nun sein erstes auf Deutsch veröffentlicht. Besonders viel bedeutet habe ihm sein Monatsmagazin „European Chinese News“, das er 1999 gründete und welches sich an Landesleute in ganz Europa richtete. Gedruckt wurde es – ebenso wie „Overseas Campus“ – in der Druckerei des „Obermain-Tagblattes“ in Lichtenfels mit einer Auflage von 18 000 Exemplaren. Inhaltlich stach es durch einen großen Ratgeberteil hervor, in dem Tipps für den Alltag gegeben sowie deutsches Recht und Gesetz erklärt wurden. Schließlich hatte You Xie durch seine langjährige Auslandserfahrung viel einschlägiges Wissen, und er wollte auf diesem Wege seinen Landleuten den Aufenthalt in Deutschland erleichtern. Der inhaltliche Schwerpunkt einer jeden Ausgabe lag aber auf aktuellen politischen Themen – sowohl aus Europa als auch aus China. Jedoch musste darauf geachtet werden, dass sich die Kritik am kommunistischen Regime in Grenzen hielt, erklärt You Xie, „denn sonst war es schwierig, Abonnenten und Anzeigen zu bekommen“. Und diese waren überlebensnotwendig. Um „European Chinese News“ produzieren zu können, gründete Xie seinen „China Fan Imbiss“ gegenüber dem historischen Bamberger Kranen. Doch das Magazin litt unter dem Rückgang der Leserzahlen. You Xie musste die Herausgabe des „European Chinese News“-Magazin nach zwölf Jahren einstellen. Was bleibt ist sein Imbiss, der für viele Bamberger Anlaufpunkt ist. Er selbst nennt ihn seine „Herzensangelegenheit“.
Kunden bleiben gern auch länger im Laden des nahezu immer gut gelaunten Chefs. Doch auch hier holt ihn seine Vergangenheit gelegentlich ein. Es komme immer wieder vor, dass chinesische Austauschstudenten, die bei ihm aßen und denen er half, sich in die Stadt zu integrieren, sich von ihm abwendeten, sobald sie erfuhren, dass er ein Dissident sei. Jedes Mal, so sagt er, treffe es ihn, wenn Studenten aus China nichts vom Tian'anmen-Massaker wüssten, dem Blutbad am Platz des Himmlischen Friedens in Peking, ihn ungläubig anstarrten oder es sogar abstritten. Die ersten Male habe sich das angefühlt wie ein Schlag ins Gesicht. Chinas Regierung unternehme alles, um das blutige Ende der Demokratieträume im eigenen Land zu vertuschen. Schulbücher würden zensiert, Medien dürften nicht frei berichten, Internetseiten würden gesperrt.
In seinem Buch „Als Chinese in Bamberg“ thematisiert er das freilich kaum. Vielmehr ist das Buch eine Widmung an seine neue Heimat: Bamberg. Obwohl er die Sprache fließend spricht, fiel ihm das Schreiben auf Deutsch nicht leicht. Die Wortfeinheit und das Denken der Chinesen sei ganz anders. Daher müsse man sich zuvor intensiv mit der Kultur und der europäischen Mentalität auseinandersetzen, sagt You Xie. „Ich versuche zu verstehen, warum der Gabelmann Goblmoo heißt“, beschreibt er augenzwinkernd seine Bemühungen, sich zu integrieren. Diese haben sich gelohnt: 2010 wurde You Xie eingebürgert. Und nicht nur das: Als Konvertit zum katholischen Glauben ließ er sich im selben Jahr taufen. „Meinen Glauben habe ich hier in Bamberg gefunden. Er gibt mir Kraft und betont die soziale Verantwortung jedes Einzelnen.“
Seine soziale Verantwortung sehe er darin, Bamberg etwas zurückzugeben – der Stadt, die ihn mit offenen Armen aufgenommen habe. Daher engagiert er sich politisch. Im April ist You Xie in den Kreisvorstand der CSU gewählt worden, wobei er das beste Wahlergebnis aller Kreisvorstandsmitglieder erhielt. Bürgermeister Werner Hipelius zufolge gilt Xie als „Hoffnungsträger“ der CSU und wird im nächsten Jahr zur Stadtratswahl antreten. „Für mich ist Bamberg ein Paradies. Mein Lebenstraum wäre, wenn alle in China leben würden wie hier in Bamberg. Dann könnte ich beruhigt sterben“, sagt der 55-Jährige. Auch wenn er fürchtet, dass sein Traum wohl nie wahr werden wird.
Stammkunden kennen die Historie von You Xie und unterhalten sich mit ihm nicht nur über „Pekingente zum Mitnehmen“. Eine von ihnen ist Tanja Kinkel, die zu den Mit-Autorinnen des Buches gehört und darin über You Xie als „wandelndes Antidepressivum“ schreibt und als wichtigen Bestandteil Bambergs: „You Xie – Teil meiner Heimat.“
You Xie: „Als Chinese in Bamberg“, Verlag Erich Weiß, 108 Seiten auf Deutsch und Chinesisch, 16,80 Euro.