Die Schlacht um Europa beginnt an einem Mittwoch. Es ist kein besonders schöner Tag. Stundenlang prasselt Regen auf London nieder. Es ist die Zeit, in der auch die letzten Freunde und Feinde der Europäischen Union ausschwirren in die Ecken eines Landes, das am 23. Juni über seine Zukunft abstimmt. Darüber, ob es die EU verlässt – oder bleibt.
An diesem Mittwoch steigt auch Gordon Brown in den Wahlkampf ein. Der ehemalige Premierminister, ein Labour-Mann, steht auf der Bühne der renommierten London School of Economics and Politics und zählt all die Fakten auf: die wirtschaftlichen Vorteile, die die Mitgliedschaft in der EU bringt, dass 45 Prozent aller Exporte nach Europa gehen, dass der Zugang zum Binnenmarkt der Schlüssel zum Wohlstand der Briten ist – und dass bei einem Austritt tausende Jobs wegfallen würden.
Es sind die üblichen Argumente. Und doch vermeidet es Brown, in den Kanon vieler EU-Befürworter einzustimmen, denen „Angstmacherei“ vorgeworfen wird. Brown packt die Zuhörer dagegen bei ihrem Nationalstolz, ihrer Geschichte, erinnert an den Stellenwert Großbritanniens in der Welt. Manchen stehen die Tränen in den Augen. „Er war ein verdammt furchtbarer Premier, aber er ist ein verdammt guter Ex-Premier“, sagt ein Mann. Vielleicht hat Brown Erfolg, wie mit seiner Last-Minute-Rede vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum. Vielleicht auch nicht. Die Situation ist eine andere als 2014. Denn ein europäisches Herz hat in den Briten nie geschlagen.
Mehr als 400 Kilometer entfernt rollt Boris Johnson im „battlebus“, seinem knallroten „Kampfbus“, in Truro in Cornwall ein. Die Gegend mit ihrer rauen Steilküste und den Vorzeigegärten kennen viele aus den Rosamunde-Pilcher-Filmen. Tausende Touristen pilgern jährlich hierher, in den Südwesten Englands. „Wir senden 350 Millionen Pfund pro Woche an die EU“, steht auf Johnsons Bus. Dass er von einer deutschen Firma stammt und in Polen gebaut wurde, machte nur kurz Schlagzeilen.
Dass die 350-Millionen-Pfund-Zahl längst von Experten und Instituten widerlegt ist, da sie weder den Beitragsrabatt von fast 100 Millionen Pfund noch die Subventionen berücksichtigt, die die Briten erhalten, spielt für das „Leave“-Lager keine Rolle.
Der frühere Londoner Bürgermeister steigt aus seinem Gefährt und wedelt mit einer Cornish Pasty – einer Spezialität aus Cornwall. Johnson erwähnt nicht, dass ausgerechnet die EU die Blätterteigtaschen als geografische Angabe geschützt hat und sie seit 2011 unter diesem Namen nur noch in Cornwall hergestellt werden dürfen. Und er verschweigt auch die Tatsache, dass die wirtschaftsschwache Region Fördermittel von der EU erhält.
Johnsons Rede handelt von Freiheit, von Demokratie und Unabhängigkeit. „Wir können uns die Kontrolle zurückholen“, ruft er. Es sei „absurd, dass uns gesagt wird, dass wir Bananen nicht in einem Bündel von zwei oder drei Stück verkaufen können“.
Johnson – neben dem konservativen Justizminister Michael Gove und Nigel Farage, Vorsitzender der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip, der lautstärkste Brexit-Befürworter – kommt mit seiner Rede gut an. Längst zählen im Wahlkampf nicht mehr nur Fakten, sondern vor allem Emotionen. Wie die Briten am kommenden Donnerstag abstimmen werden, ist unklar. Seit Wochen deuten die Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen an. Zuletzt deutete sich ein dünner Vorsprung für die Gegner eines EU-Austritts an, davor lagen die Befürworter knapp vorn.
Die Meinungsforscher von YouGov machten zuletzt den Bezirk Havering als die europaskeptischste Gegend im gesamten Königreich aus. Warum das so ist? Die Spurensuche in der Stadt Romford, eine halbe Zugstunde von London entfernt, beginnt an einem Gebäude, das den Namen Margaret-Thatcher-Haus trägt, und endet, wie meist in Großbritannien, im Pub. Am Hauptquartier der Konservativen, das zugleich als Basis der parteiübergreifenden Kampagne für einen EU-Austritt dient, kleben Dutzende Plakate, der Union Jack weht im Wind. Eine Gedenktafel erinnert an die Eiserne Lady, Fotos von ihr schmücken die Wände. Mit dem legendären Satz „I want my money back“ setzte Thatcher einst den Briten-Rabatt in der EU durch. Die Europa-Skeptiker wollen mehr. „We want our country back“, „Wir wollen unser Land zurück“.
Es empfängt Andrew Rosindell, konservativer Abgeordneter und Austrittsbefürworter, Kategorie eifrig und leidenschaftlich, freundlich und überzeugend. Zu Ruhm gelangte er im Wahlkampf 2001, als er an der Seite eines in eine Union-Jack-Weste gekleideten Bullterriers auftrat. Rosindell nimmt einen Schluck Kaffee aus der Tasse mit britischen Nationalfarben. Er spricht vom instinktiven Glauben an das Land und einem tiefsitzenden Patriotismus, der hier, in der Marktstadt, herrsche. Und er sagt, dass der europäische Weg schiefgegangen sei. „Uns wurde Stück für Stück unsere Demokratie weggenommen und das Recht, unsere eigenen Entscheidungen in unserem eigenen Land zu treffen.“ Als Parlamentarier fühle er sich, als stempele er nur noch EU-Gesetze und Regelungen ab.
Mehr nationale Souveränität und weniger Fremdbestimmung – es ist eines der zentralen Argumente der Austrittsbefürworter. Selbst einige Vertreter von stark EU-subventionierten Branchen wie Fischerei oder Landwirtschaft möchten daher die Mitgliedschaft aufkündigen. Doch den Ausschlag könnte am Ende das Thema Immigration geben.
Steve Golden lehnt an der dunklen Holztheke des „Golden Lion“ in Romford und trinkt zum Mittagessen ein Pint Pale Ale. „Wir werden überrannt“, sagt der 57-Jährige, der auf dem Bau mit vielen Einwanderern arbeitet. Großbritannien halte den Zustrom der Migranten nicht aus. Darunter litten Schulen und Krankenhäuser, es mangele an Wohnraum.
Tatsächlich trifft er damit den wunden Punkt des britischen Premierministers David Cameron. Er hatte seinen Landsleuten zugesagt, die Zahl der Einwanderer auf unter 100 000 pro Jahr zu senken. Stattdessen zogen mehr als 300 000 Menschen jährlich auf die Insel, der Großteil stammt aus anderen EU-Staaten. Die Entwicklung sei „einfach nicht richtig“, findet Steve Golden. So wie Golden denken viele Briten. Die EU-Gegner nutzen das aus, um Stimmung im Land zu machen. Auch die Rechtspopulisten profitieren von der Anti-Einwanderungs-Debatte.
In der Fußgängerzone von Romford schreien Gemüsehändler derweil um die Wette. Der Geruch von Fish & Chips liegt in der Luft. Ein Straßenmusikant schmettert Elvis Presleys „It?s Now Or Never“. Jetzt oder nie? Ist es die Zeit, Europa den Rücken zu kehren – oder doch sinnvoller, zu bleiben?
Universitätsstädte wie Cambridge oder Oxford gehören zu den europafreundlichsten Orten auf der Insel. Hier leben viele junge Menschen, die mehrheitlich gegen den Brexit sind. Die Gründe sind offensichtlich: Sie schätzen die Reisefreiheit und das Multikulti-Umfeld, in dem sie leben. Und sie fürchten Nachteile auf dem internationalen Arbeitsmarkt. Nur die Frage ist: Werden sie auch ihre Stimme abgegeben? „Dass die Menschen nicht wählen gehen, ist unsere größte Sorge“, sagt Lucasta Bath.
Die 19-Jährige studiert Französisch und Deutsch an der renommierten Universität in Oxford. Doch derzeit beherrscht Europa ihren Alltag. Mehrmals pro Woche klopft die Vorsitzende der „Oxford Students for Europe“ an unzählige Türen von Reihenhaussiedlungen, die für die Insel so typisch sind. Heute eilt sie im Stechschritt von der Helen Road in die Alexandra Road.
83 Prozent „in“, null Prozent „out“, liest sie von einer selbst erstellten Umfrageliste ab. 83 Prozent für den Verbleib in der EU. Gibt es sie also hier, die echte Liebe zu Europa? Oxford sei eine Besonderheit, eine „pro-europäische Blase“, schränkt ein Aktivist ein.
Julian LeVay ist an diesem Abend der einzige Nichtstudent in der Gruppe, sein Rucksack ist vollgestopft mit Flyern und Plakaten. Der 65-Jährige stellt sich als „ehemaliger Euro-Skeptiker“ vor. Zu Beginn habe er sich nur für seine Kinder engagieren wollen, die auf dem Kontinent leben, erzählt er. Doch es sei besser, gemeinsam an der EU zu arbeiten als von außen zuzuschauen, als Auflagen diktiert und Rechnungen gestellt zu bekommen, wie das etwa bei Norwegen der Fall sei. Zudem stoße ihn die Rückwärtsgewandtheit vieler Anhänger des Austrittslagers ab. LeVay bescheinigt ihnen eine „aggressive Nostalgie“. Dabei sei die Zeit von vollkommen autarken Nationen vorbei. „Das mag für meine Generation schmerzhaft sein, aber es ist die Wahrheit.“ Die Konsequenzen, sollte Europa scheitern, wären schrecklich. Ein Brexit, befürchtet nicht nur er, könnte der „Anfang vom Ende“ der europäischen Idee bedeuten.
LeVay klingelt bei der Nummer 198. Ein Unternehmer öffnet. Einer, den er nicht mehr überzeugen muss. Natürlich stimme er für den Verbleib, sagt der Mann. Immerhin habe er eine Dänin, eine Ungarin und eine Italienerin angestellt. „Ohne sie kann ich mein Geschäft schließen.“ Am Donnerstag entscheidet sich nicht nur sein Schicksal.