Der verheerende Brand, der sich 2004 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar ereignete, der größte Bibliotheksbrand in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, sowie der Einsturz des Kölner Stadtarchivs sechs Jahre später waren Katastrophen mit unwiederbringlichen Verlusten. Dass aber nicht alles, was man verloren glaubte, auch verloren ist, verdankt sich einer Institution, die ganz im Gegensatz zu ihrer Bedeutung nur einen geringen Bekanntheitsgrad hat.
Mitten im Schwarzwald bei Oberried, ein paar Dörfer hinter Freiburg, schlängelt sich ein Wirtschaftsweg den Hang hinauf. Wer ihn an einer Gabelung verlässt und ein paar Meter einem Trampelpfad folgt, steht plötzlich vor einem Stahltor. Der Weg endet hier. Drei mit der Spitze nach unten weisende, blau-weiße Fünfecke markieren das Tor.
Jeder hat dieses Zeichen, mit dem die Unesco schützenswerte Kulturgüter auszeichnet, schon mal gesehen. An berühmten Bauwerken wie Kathedralen und Schlössern ist es angebracht, jedoch immer nur eines und nicht drei nebeneinander. „Drei Schutzschilde stehen nur an ganz besonders wichtigen Orten und in Deutschland nur hier“, empfängt Lothar Porwich vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die seltenen Besucher.
Ein besonderer Ort? Das fällt schwer zu glauben.
„Hier wird alles verraten“, führt der Diplom-Verwaltungswirt aus, „nur der Zahlencode des Eingangsschlosses nicht.“ Erfreulich, dass der Angestellte des Sicherheitsdienstes ein gutes Gedächtnis hat. Außer ihm kennt nur noch eine weitere Person den Code. Dann betritt man den nach der Schutzpatronin der Bergleute benannten Barbarastollen, der mit drei Alarm- und Überwachungssystemen gesichert ist.
„Früher wurde hier Erz aus den Silberminen abtransportiert, heute lagert hier die deutsche Geschichte.“ Knapp 400 Meter geht man in den einsturzsicheren Stollen. Zu sehen ist nicht viel, bis auf zwei mächtige Drucktüren. Sie schützen das dahinter liegende „Superarchiv“, wie es das BBK unbescheiden nennt.
In den zwei mit Beton ausgebauten Sei-tenflügeln des Stollens lagern 1500 rostfreie Edelstahlbehälter, jeder 122 Kilo schwer. Ihr Inhalt: über 30 000 Kilometer Mikrofilmmaterial. „75 Mitarbeiter in zwei Bundes- und zwölf Landesarchiven sind damit beschäftigt, wichtige Dokumente zur Geschichte und Kultur unseres Landes zu verfilmen“, erklärt Porwich. Früher geschah das nur in Schwarzweiß, seit einigen Jahren auch in Farbe. „Voraussetzung ist, dass es sich bei allen Dokumenten um Unikate handelt.“ Die 50 000 Euro teuren Spezialkameras ermöglichen sogenannte Sicherungsverfilmungen. Der Inhalt der Originale wird dabei nicht codiert, sondern um den Faktor 14 verkleinert. Drei Millionen Euro jährlich stellt der Bund für Verfilmungen von Archivgut zur Verfügung.
„Mindestens 500 Jahre sind die Aufnahmen haltbar, sprich lesbar“, so der BBK-Mitarbeiter. Zu diesem Zweck werden die Stahlbehälter mit den zu circa 1,3 Kilometer langen Rollen zusammengeschweißten Filmen vier Wochen in einer Klimakammer bei konstant zehn Grad Celsius und 35 Prozent relativer Luftfeuchtigkeit klimatisiert. Dann werden die Behälter luftdicht verschlossen und in den Stollen im Schwarzwald transportiert, wo vergleichbare Klimabedingungen herrschen, ohne dass technische Hilfe nötig wäre.
Das erklärt, warum gerade hier eingela-gert wird. Neben den geologischen Aspekten war auch die Lage ausschlaggebend. „Der Ort ist ideal, weil er abseits der Ballungs- und Industrieregionen liegt“, weiß Lothar Porwich. „Hier können die Filme Kriege und Naturkatastrophen unbeschadet überstehen.“ Mehrmals im Jahr muss das BBK nach dem Rechten sehen. „Wir führen Kontrollöffnungen der Behälter durch, um den Zustand der Filme zu prüfen.“ Einlagerungen finden ein- bis zweimal pro Jahr statt. „Anfang Oktober werden wir das einmilliardste Dokument hier sichern, das Grundgesetz von 1949“, freut sich Porwich, der es als „irre Idee“ ansieht, Sachen für die Zukunft wegzupacken. „Meist läuft es ja anders: Man schmeißt weg“, bemerkt er lächelnd.
In diesem Zusammenhang muss die Frage nach den digitalen Speichermöglichkeiten gestellt werden.
Die sind doch sicher kostengünstiger? „Sehen Sie“, wendet einer der zuständigen Referenten für die Verfilmung, Martin Luchterhandt, ein, „zum Lesen von digitalen Informationen brauchen Sie ein Medium, für unsere Filme nicht.“ Mit Lupe und Lichtquelle könne man leicht alles entziffern.
Und warum macht man sich eigentlich die ganze Arbeit? „Die Bundesrepublik hat 1954 die Haager Konvention un-terzeichnet“, erklärt der Berliner Oberarchivrat. Vorrangiges Ziel der von der Unesco anberaumten Konferenz war die Sicherung von Kulturgut vor bewaffneten Konflikten. Mittlerweile ist auch der Schutz vor Katastrophen in Friedenszeiten wie in Köln oder Weimar ein zentrales Thema. „Mit 6396 hier im Stollen gelagerten Filmen, auf denen Material aus dem verschütteten Kölner Archiv gesichert wurde, können wir helfen, den dortigen Bestand wieder aufzubauen“, freut sich Luchterhandt. Dabei sind auch die Baupläne des Kölner Doms.
Andere Beispiele bedeutender Dokumente deutscher Geschichte sind die Krönungsurkunde Ottos des Großen von 936, die Goldene Bulle von 1356, der Vertragstext des Westfälischen Friedens von 1648 und die Urkunde, mit der Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, aber auch Spielpläne der Bayreuther Festspiele.
Was sich nicht ganz so spektakulär anhört – Gesetzes- und Vertragstexte, Urkunden und Gerichtsakten, Grundbücher und Statistiken –, ist ebenfalls integ-raler Bestandteil der deutschen Geschichte. Dass allerdings Archiv- gut nicht-staatlicher Institutionen, etwa der Kirchen, generell nicht verfilmt wird, ist dagegen eher ein Wermutstropfen.
„Es gibt eigentlich keine festgelegten Kriterien für die Auswahl der zu verfilmenden Dokumente“, räumt Martin Luchterhandt ein. Das ist Angelegenheit der jeweiligen Verfilmungsstellen. Stichwort: Kulturhoheit der Länder. Alter und Bedeutung seien ausschlaggebend. Über Letztere kann man trefflich streiten. „Das entscheidende Kriterium ist die Singularität eines Dokumentes“, so der Berliner Archivar. Das Auswahlverfahren ist nicht öffentlich, was Luchterhandt nicht schlimm findet: „Es ist eine Expertenveranstaltung.
Und die Bestände bleiben ja erhalten.“ Aber eine breite öffentliche Diskussion zu einem speziellen Thema könne die Verfilmungsregie auch beeinflussen. Insgesamt sollen 30 Prozent des Archivgutes aus den Jahrhunderten vor 1800 und 15 Prozent der Zeit danach verfilmt werden. Vor allem Letzteres gleicht aufgrund der ständig wachsenden Zahl der Dokumente einer Sisyphos-Anstrengung.
Die Filmbestände der DDR, über 8000 Kilometer, die sich aufgrund des mangelhaften Materials zu zersetzen drohten, wurden nach der Wiedervereinigung umkopiert und lagern nun im Barbarastollen. Beide deutschen Staaten hatten 1961 mit der Verfilmung von Archivgut begonnen. Die erste Einlagerung im Schwarzwald fand 1974 statt. Vorher verwahrten die einzelnen Verfilmungsstellen das Material.
1978 wurde der Zentrale Bergungsort der Bundesrepublik von der Unesco in das Register der Objekte mit Sonderschutz aufgenommen. Damit rangiert der Stollen auf einer Bedeutungsebene mit dem Vatikan. Seitdem findet man auch die drei blau-weißen Fünfecke am Eingangstor.
Der Barbarastollen
Wo? Der Barbarastollen befindet sich in Oberried am Schauinsland, in der Nähe von Freiburg. Früher wurde dort Erz abgebaut.
Was? Zurzeit werden 1500 Edelstahlbehälter in zwei Schächten aufbewahrt. Sie enthalten eine Milliarde Materialien (ab Oktober) zur Geschichte und Kultur Deutschlands (auch der DDR) auf Mikrofilm. Als ältestes Dokument gilt eine Urkunde Karls des Großen für das Kloster St. Emmeram in Regensburg von 794. Warum? Staaten wie die BRD, die die Haager Konvention von 1954 unterzeichnet haben, stellen Kulturgut unter Schutz und sichern es für die Nachwelt. Wer? Zuständig für den Stollen ist das Bonner Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Die Verfilmungen werden in zwölf Landes- und zwei Bundesarchiven durchgeführt. 75 Mitarbeiter sind dafür tätig. Kann man rein? Am 1. und 2. Oktober finden im Barbarastollen zwei Tage der offenen Türe statt. Kontakt: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn, Tel. (02 28) 99 55 00. Internet: www.bbk.bund.de