Der 64-Jährige war Benediktinermönch, Cellerar und Prior des Klosters Andechs. Heute wirkt der Priester als Referent, Buchautor und Coach. Sein neues Buch „Bei aller Liebe – Warum die katholische Kirche den Zölibat freigeben muss“, erscheint im Piper-Verlag.
Frage: Sie bezeichnen den Zölibat als Lebenslüge und katholische Scheinheiligkeit – warum?
Anselm Bilgri: Zum einen, weil der Zölibat nicht 100 Prozent gelebt werden kann. Der Anteil der Priester, der ihn wirklich einhält, ist gering. Ich schätze, das ist vielleicht ein Drittel. Zwei Dritteln gelingt es nur schwer. Zum anderen ist dieses Gebot in der modernen Zeit kein überzeugendes Merkmal mehr. Die herkömmliche Sexualmoral der katholischen Kirche besagt: Sex nur in der Ehe und nur, um Kinder zu zeugen. Sex ist zu sehr ins Sündhafte abgeglitten. Davon müssen wir weg.
Mit 19 Jahren sind Sie ins Priesterseminar eingetreten – haben Sie selbst unter dem Zölibat gelitten?
Bilgri: Gelitten habe ich nicht. Als ich eingetreten bin, war ich begeistert und hatte die feste Überzeugung, ich kann den Zölibat halten. Mit der Zeit sieht man das realistischer. Es kann dann auch sehr einsam im Kloster sein. Man sehnt sich nach Zweisamkeit, Zärtlichkeit und körperlicher Nähe.
Sie widmen Ihr neues Buch Ihren „durch den Zölibat bedrängten Brüdern“ – wie groß ist die psychische Belastung?
Bilgri: Wenn sich jemand an die herkömmliche Sexualmoral der Kirche gebunden fühlt, dann wird er immer ein schlechtes Gewissen haben. Und das belastet die Psyche. Es gibt sicher auch viele die sagen, ich betrachte das nicht mehr als Sünde. Meine Erfahrung ist, ein Pfarrer wird in der Gemeinde akzeptiert, wenn er seine Arbeit gut macht. Dann ist es egal, ob er den Zölibat einhält oder nicht. Aber es schwebt immer das Damoklesschwert über ihm.
In dem Buch beschreibt Ihr Co-Autor Gerd Henghuber Geschichten von Priestern, die miteinander das Bett teilen, die im Geheimen oder offen in einer Partnerschaft leben oder sich in Etablissements vergnügen. Ist das die gängige Art, wie man den Zölibat umgeht?
Bilgri: Jeder weiß vom anderen, dass er genauso mit dem Zölibat kämpft, aber man redet nicht darüber. Es gab Vermutungen und Gerüchte. Aber es wird totgeschwiegen, weil es offiziell nicht sein darf.
Das Gebot stammt nicht aus der Bibel und ist auch nicht von Jesus gestiftet. Woher kommt die Tradition?
Bilgri: Schon in der Antike und bei den Griechen gab es eine solche leibfeindliche Strömung. Zum anderen rührt diese Tradition aus dem Judentum. Die Priester in Jerusalem mussten während ihres Tempeldienstes enthaltsam leben, weil man Angst hatte, dass über die Sexualität Dämonen Eingang in den Körper finden und damit das Opfer ungültig machen. Im Christentum hat sich diese Vorstellung zum Eheverbot gesteigert.
Die Kirche hat viel Vertrauen durch die Missbrauchsfälle verloren – sehen Sie das in einem Zusammenhang mit dem Zölibat?
Bilgri: Ich kenne durch meine Ordenszeit auch ein paar Leute, die Schüler missbraucht haben. Das sind oft keine Pädophilen, sondern Menschen, bei denen die Sexualität plötzlich aufbricht und die sie an den Jugendlichen, die gerade da sind, ausgelebt haben. Wenn der Zölibat fallen würde, könnten die Menschen ihre Sexualität normal ausleben.
Warum haben Sie das Buch jetzt geschrieben? Hat das auch mit dem reformorientierten Papst zu tun?
Bilgri: Ja, jetzt kann man solche Themen offen ansprechen. Ein Spruch von Papst Franziskus lautet ja, die Realität kommt vor der Idee. Und Realität ist es nun einmal, dass der Zölibat dazu führt, dass es immer weniger Priester gibt. Es werden Gemeinden zusammengelegt, ausländische Priester reingeholt, Laien zu Gemeindeleitern beauftragt – aber das heiße Eisen greift man nicht an. Das sollte man jetzt aber mal tun. Papst Franziskus ermuntert die Bischöfe, Änderungsvorschläge zu bringen.
Glauben Sie wirklich, dass sich der Nachwuchsmangel durch eine Zölibatlockerung lösen lässt?
Bilgri: Der Zugang muss sich grundsätzlich ändern. Ich darf nicht davon ausgehen, dass ein junger Mensch nach einem siebenjährigen humanistischen Studium ins Priesteramt strebt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Menschen mit Familie und Beruf, die in einer Gemeinde sehr engagiert sind, zukünftig Priester werden. Wenn es geht, Beruf und Familie zu haben und nebenbei eine Gemeinde zu leiten, verliert das Priesteramt das Gewicht einer einschneidenden Lebensentscheidung.
Was versprechen Sie sich von Papst Franziskus?
Bilgri: Meine Hoffnung ist, dass er grünes Licht gibt, den Zölibat fallen zu lassen. Nächstes Jahr soll es die Amazonas-Synode geben, wo die südamerikanischen Bischöfe zusammenkommen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es da einen Vorstoß in diese Richtung geben wird.
Was müsste sich in der Kirche noch ändern, damit sie zukunftsfähig ist?
Bilgri: Es müsste mal endlich das hierarchische Denken verschwinden. Man hat immer noch das Gefühl, Kirche ist von oben nach unten strukturiert. Oben Papst, Bischöfe, Priester und Pfarrer, ganz unten die Gläubigen. Aber eigentlich ist es ja umgekehrt. Wir müssen von unten nach oben denken. Diese Mentalität ist noch nicht in allen Köpfen angekommen. Und natürlich bräuchte man die Aussöhnung zwischen Wissenschaft und Glauben. Jungfrauengeburt und Auferstehung muss man so erklären, dass es der moderne Mensch mit seinem wissenschaftlichen Denken auch annehmen kann.