Nach 45 Minuten hat Jürgen Seifert, der Vorsitzende Richter, genug. „Ich möchte das Ganze nicht zu einer Talkshow verkommen lassen“, sagt er. Obwohl die Anklageschrift gegen den früheren Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy noch gar nicht verlesen ist, haben sich dessen Anwalt Christian Noll und Oberstaatsanwalt Thomas Klinge bereits derart heftig ineinander verhakt, dass Seifert intervenieren muss, wenn er in diesem Prozess mehr sein will als nur der Moderator. Ein Gerichtsverfahren folgt einer strengen Dramaturgie, und nach der muss Klinge erst einmal vortragen, was genau er Edathy vorwirft, nämlich den Besitz von Fotos und Filmen, deren Motive nicht nur entwürdigend und geschmacklos sind, sondern eindeutig kinderpornografisch. Über eine Einstellung des Verfahrens, wie sie sich eine weitere Dreiviertelstunde später vage abzeichnet, lässt Seifert zwar mit sich reden. Aber eben nicht jetzt.
Landgericht Verden, Saal 104. So voll wie an diesem Montagmorgen war es hier zum letzten Mal vor knapp zehn Jahren, als eine Strafkammer eine Bewährungsstrafe gegen den 19-jährigen Sven J. verhängte. Mit den Computerwürmern „Sasser“ und „Netsky“ hatte dieser Millionen von Rechnern vorübergehend lahmgelegt. Damals kamen sogar Fernsehteams aus Japan und den USA in die Kleinstadt an der Aller. Diesmal kommen sie vor allem aus Hannover und Berlin, den wichtigsten Schauplätzen eines bislang beispiellosen Falles. Für den Angeklagten Edathy wird er in Saal 104 allenfalls sein juristisches Ende finden.
Neben seiner beruflichen Reputation, argumentiert sein Anwalt, der auf eine Einstellung drängt, habe Edathy auch sein privates und gesellschaftliches Ansehen verloren. „Freunde haben sich abgewandt, sein persönliches Umfeld hat sich aufgelöst.“ Dass ihn jemand einstellen würde? „Kaum vorstellbar.“
Edathy selbst schweigt zur Sache, was sein gutes Recht ist. Mal rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, mal nestelt er an seinem Sakko, mal macht er sich in einer kleinen, schwarzen Kladde Notizen. Nur einmal, als der Richter seine Personalien aufnimmt, ergreift er kurz das Wort. Ihr Vorname, Herr Edathy? „Sebastian.“ Geboren? „Am 5. 9. 1969.“ Beruf? „Zurzeit ohne Beschäftigung.“ Ein Wort der Reue oder gar des Mitgefühls mit den Kindern auf den Bildern kommt ihm nicht über die Lippen, auch das überlässt er seinem Anwalt. Der behauptet, Edathy bedauere sein Verhalten zutiefst. Der Rest ist juristische Fachsimpelei. Ist der Sohn eines indischen Pfarrers und seiner deutschen Frau durch die öffentliche Erörterung seines Falles, die Noll mehrfach mit einem Pranger vergleicht, nicht genug bestraft? Kann er überhaupt noch ein faires Verfahren erwarten, nachdem so vieles an die Öffentlichkeit gelangt ist und die Unschuldsvermutung damit praktisch entwertet wurde?
Dass ausgerechnet der zuständige Generalstaatsanwalt Frank Lüttig Interna an Journalisten weitergereicht haben soll, spielt Noll erkennbar in die Karten. Er warnt vor einer „Amerikanisierung der Verhältnisse“ und rückt das Verfahren gegen seinen Mandanten in eine Reihe mit den Steuerverfahren gegen den früheren Post-Chef Klaus Zumwinkel, den langjährigen Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß und die Feministin Alice Schwarzer: „Es drängt sich der Eindruck auf, dass Staatsanwaltschaften zunehmend dazu übergehen, Verfahren über die Öffentlichkeit zu betreiben, statt dort, wo sie hingehören: vor Gericht.“
Die Frage, ob Edathy kinderpornografisches Material besessen hat oder nicht, ob er also schuldig ist im Sinne der Anklage oder nicht, spielt offenbar keine Rolle. Verteidiger Noll folgt einer anderen Logik: Ein Verfahren, das derart aus dem Lot geraten sei, müsse eingestellt werden.
Dazu würde Edathy, der von sich selbst sagt, er sei nicht pädophil, auch eine Geldbuße „im mittleren vierstelligen Bereich“ akzeptieren, wie Richter Seifert sie schon einmal vorgeschlagen hat, bei der Staatsanwaltschaft aber auf wenig Kompromissbereitschaft stieß. Ankläger Klinge will sich auf einen solchen, durchaus üblichen Handel zur Abkürzung des Verfahrens nur einlassen, wenn Edathy vorher eine Art Schuldeingeständnis abgibt.
„Es liegt an Ihrem Mandanten“, sagt er zu Noll. Sollten Verteidiger und Staatsanwalt sich bis zum nächsten Verhandlungstermin am kommenden Montag auf eine solche Übereinkunft einigen, könnte das Verfahren schneller zu Ende sein, als es begonnen hat. Ziemlich genau ein Jahr nach dem Rücktritt des früheren Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU), der SPD-Chef Sigmar Gabriel im Herbst 2013 über den Verdacht gegen Edathy informiert hatte. Er bezahlte für diesen Geheimnisverrat einen hohen Preis, während alle Mitwisser in der SPD noch in ihren Ämtern sind.
Der letzte Eintrag auf Edathys Internetseite stammt vom 8. Februar 2014: „Ich habe mich aus gesundheitlichen Gründen dazu entschieden, mein Bundestagsmandat niederzulegen.“ Vier Tage später meldet er seinen tragbaren Computer bei der Parlamentsverwaltung als gestohlen, das vielleicht wichtigste Beweisstück. In mühsamer Kleinarbeit versuchen die Ermittler deshalb, die Aktivitäten des Ex-Abgeordneten im Netz zu rekonstruieren – und werden fündig.
Zwischen dem 1. November 2013 und dem 12. Februar 2014 soll Edathy sich siebenmal über seinen Dienstcomputer kinderpornografische Bilder und Videos von einer russischen Seite heruntergeladen haben. Bei einer Hausdurchsuchung entdecken die Fahnder überdies einen Bildband mit dem Titel „Boys in ihrer Freizeit“ und eine CD namens „Movie“. Auch dieses Material stuft Staatsanwalt Klinge als klar pornografisch ein. Junge Männer, sagt er, posierten dort „unter Zurschaustellung ihrer Genitalien“.
Interne Ermittlungsberichte, aus denen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zitierte, sprechen eine noch deutlichere Sprache: Danach hat Edathy weitaus mehr und möglicherweise auch weitaus härteres Material besessen als ihm jetzt zur Last gelegt wird. Beweisen aber lässt sich das nur schwer, weil er offenbar viel Mühe darauf verwandt hat, seine Spuren zu verwischen.
Die Strafe, die den 45-Jährigen im Falle einer Verurteilung erwartet, würde deshalb auch ohne einen Deal mit der Staatsanwaltschaft „eher im unteren Bereich anzusiedeln“ sein, wie das Gericht schon vorab signalisiert hat. Schließlich gehe es um „vergleichsweise wenige Taten mit einer noch begrenzten Zahl an Zugriffen“. Das heißt: Ins Gefängnis muss Edathy im Falle eines Falles sicher nicht. Edathy selbst hat mehrfach beteuert, nichts Verbotenes getan zu haben, weil es bis vor kurzem einen feinen juristischen Unterschied gemacht hat, was genau auf Bildern zu sehen war, wie er sie bestellt bzw. heruntergeladen hat. Nur nackte Jungs? Oder nackte Jungs in eindeutigen, stark sexualisierten Posen? Bei seinem Auftritt vor der Bundespressekonferenz im Dezember hat er es so formuliert: „Es war sicherlich falsch, diese Filme zu bestellen, das will ich gerne einräumen, aber es war legal.“
Wie jeder Abgeordnete, der aus dem Bundestag ausscheidet, erhält der 45-Jährige für jeden Monat im Parlament Übergangsgeld, alles in allem gut 130 000 Euro. Vage hat er angedeutet, sich irgendwo in Nordafrika eine neue Existenz aufbauen zu wollen, möglicherweise in Marokko, wo er sich häufig aufhalten soll. Seine Adresse in Berlin will er vor Gericht nicht nennen, sondern nachreichen – dazu sitzen zu viele Journalisten im Saal, die sie mitschreiben könnten. Sie, vor allem, sind es ja, die ihn nach Nolls Worten durch ihre „massive Befeuerung“ zu einem Menschen gemacht haben, der nicht einmal mehr einen Zug besteigen oder ein Restaurant besuchen kann, ohne schief angesehen oder gar bedroht zu werden.
Das aber wird in diesem Verfahren so wenig verhandelt wie die politischen Kollateralschäden des Falles Edathy und die Frage, wer wann etwas wusste in der SPD. Hier in Verden, sagt Ankläger Klinge zu Anwalt Noll, gehe es nur um eines: Hat Ihr Mandant Kinderpornografie besessen oder nicht?“