Es sind 44 Einschüsse, die später im Körper des Toten gezählt werden, abgefeuert aus einem Maschinengewehr im Estadio Nacional, dem zum Konzentrationslager umfunktionierten Nationalstadion in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Der Erschossene, er heißt Victor Jara, dürfte schon vor dem Kugelhagel mehr tot als lebendig gewesen sein. Ein Offizier hatte den Liedermacher der chilenischen Linken unter den Gefangenen im Stadion erkannt und brutal foltern lassen.
Es ist der 16. September 1973. Tage zuvor, am 11. September, hat das chilenische Militär unter General Augusto Pinochet den 1970 gewählten Präsidenten Salvador Allende aus dem Amt geputscht, Allende nimmt sich im bombardierten Präsidentenpalast „Moneda“ das Leben. Der Staatsstreich gegen die Regierung des linken Parteienbündnisses Unidad Popular (UP) ist die Erdrosselung eines einzigartigen Politikprojekts: sozialistische Politik innerhalb der parlamentarischen Demokratie. Was folgt, ist eine 16-jährige Diktatur mit über 3100 Toten und „Verschwundenen“ sowie 30 000 Folteropfern. Etwa 250 000 Chilenen gingen ins Exil.
Konsequente Sozialreformen
Die UP tritt 1970 mit einem konsequenten Programm tief greifender Sozialreformen an, das den bisher unterprivilegierten Schichten soziale Mindeststandards gewährleisten soll. Ein aus 40 Punkten bestehendes Sofortprogramm sieht unter anderem kostenlose Schulbildung, Steuererleichterungen für Geringverdiener, eine Mietpreisbremse sowie kostenloses Essen für Kinder bedürftiger Familien vor. Die Reformen sind bitter nötig: 1970 gelten in Chile 1,5 Millionen Kinder als unterernährt, 500 000 Familien sind obdachlos. Der Landbesitz konzentriert sich bei einer kleinen Oberschicht: 80 Prozent des Nutzlandes sind in der Hand von 4,2 Prozent der Grundeigentümer. Eine Agrarreform gehört somit ebenso zur Politik der UP-Regierung wie eine Verstaatlichung der Bodenschätze, insbesondere der zumeist in US-amerikanischer Hand befindlichen Kupferminen.
Allende zieht sich damit den Hass der chilenischen Oberschicht ebenso zu wie die besondere „Aufmerksamkeit“ Washingtons. Dort basteln der Sicherheitsberater und spätere US-Außenminister Henry Kissinger und die CIA bereits ab Mitte September 1970 an einer Strategie, um Allende loszuwerden, die im Wesentlichen aus drei Schritten besteht: Wirtschaftskrieg von außen, Destabilisierung im Inneren und schließlich Umsturz.
Die USA verhängen ein Finanz- und Wirtschaftsembargo. Ein Schwerpunkt liegt auf der Torpedierung des für das lang gestreckte Land äußerst wichtigen Transportsektors. Ersatzteile für Lastwagen und Busse werden nicht mehr geliefert, parallel dazu unterstützt Washington finanziell einen Streik der Fuhrunternehmer, der über Wochen nahezu den gesamten Transport im Land lahmlegt. Geld aus den USA wird auch in rechtskonservative Medien gepumpt, so in die Zeitung „El Mercurio“, die im Dauermodus die Kampagnen gegen die Allende-Regierung anheizt.
Boykott und Sabotage bleiben nicht ohne Wirkung, das wirtschaftliche und öffentliche Leben destabilisiert sich. Ihr Hauptziel verfehlen die in- und ausländischen Gegner der UP jedoch. Bei der Parlamentswahl im März 1973 kann die UP ihren Stimmenanteil gegenüber 1970 sogar von 36,3 auf 43,9 Prozent erhöhen. Die Hoffnung der Opposition, Allende per Zweidrittelmehrheit abzusetzen, hat sich zerschlagen. Daraufhin ziehen die Feinde des verfassungsmäßigen Präsidenten ihre letzte Karte – die militärische.
Die internationalen Reaktionen auf den Putsch sind ein Spiegel der Systemauseinandersetzung, was sich auch im Verhalten der beiden deutschen Staaten zeigt. In der DDR-Botschaft in Santiago finden Verfolgte unmittelbar nach dem Putsch Zuflucht, darunter auch der Generalsekretär von Allendes Sozialistischer Partei, Carlos Altamirano. Ihn schleusen Botschaftsmitarbeiter in einer filmreifen Aktion versteckt in einem Auto über Argentinien in die DDR aus.
Die bundesdeutsche Vertretung bleibt zunächst wochenlang für Verfolgte geschlossen. Erst Anfang November 1973 werden Flüchtlinge aufgenommen. Wie 1998 bekannt wurde, verweigert Baden-Württembergs Ministerpräsident Hans Filbinger dem UP-Außenminister Clodomiro Almeyda nach dessen Ankunft in der Bundesrepublik Asyl, Almeyda reist daraufhin in die DDR weiter.
Während der Terror der Junta auch in weiten Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit für Bestürzung sorgt, gibt es in der Bundesrepublik aber ebenso eine mehr oder minder deutliche Unterstützung für den Umsturz. An der Würzburger Universität sind es später exemplarisch der Soziologieprofessor Lothar Bossle (1929 bis 2000) und der Völkerrechtler Dieter Blumenwitz (1939 bis 2005), die aus ihrem Verständnis für den Putsch keinen Hehl machen. Aufschlussreich ist ein Buch, das Bossle 1987 herausgibt („Chile. Rückfahrt zur Demokratie“) und zu dessen Autoren auch Blumenwitz gehört. In seinem Beitrag bezeichnet er Allende und die UP-Regierung als eine „gesetzwidrig handelnde Obrigkeit“ und stellt den Putschisten quasi einen Persilschein aus: Der Putsch, von Blumenwitz beschönigend „Machtwechsel“ genannt, habe sich auf Grundlage jenes Widerstandsrechts vollzogen, das auch das deutsche Grundgesetz vorsieht.
Umstritten ist die Rolle des Würzburger Professors beim Zustandekommen der vom Regime initiierten neuen Verfassung. 1980 in einem unter Diktaturbedingungen zweifelhaften Plebiszit angenommen, verpasst sie der Diktatur ein demokratisches Mäntelchen und sichert dem „Präsidenten“ Pinochet eine weitere fast neunjährige ungestörte Herrschaft. Blumenwitz erklärte noch 1997 gegenüber der Main-Post, „niemals“ an einer „Pinochet-Verfassung“ mitgearbeitet zu haben. Gleichwohl hatte er aber 1985, also zu Diktatur-Zeiten, nach einer im Archiv dieser Zeitung vorliegenden Notiz „aus der Hand“ des Bonner Botschafters der Junta-Regierung den Verdienstorden „Bernardo O-Higgins“ der Republik Chile erhalten. Gewürdigt wurden damit unter anderem ausdrücklich „die Verdienste Blumenwitz’ bei der Ausarbeitung der chilenischen Verfassung von 1980“. Das bestätigt auch der Autor Friedrich Paul Heller in seiner 2012 erschienenen Pinochet-Biografie mit Verweis auf den Chile-Besuch von 1977 des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß: „Einer seiner politischen Freunde, Professor Dieter Blumenwitz (Würzburg), hat später tatsächlich an der chilenischen Verfassung mitgearbeitet.“
In seinem Beitrag für Bossles Buch lobt Blumenwitz die Verfassung, ohne das Plebiszit infrage zu stellen. Dem Regime wird stattdessen eine Art demokratische Fürsorge attestiert: Die Verfassung sei „gekennzeichnet von der Tendenz, eine Wiederkehr der Zustände, die zum Zusammenbruch der Demokratie vor 1973 geführt haben, zu verhindern“. Anerkennung findet bei Blumenwitz auch die in der Verfassung für die Wirtschaft vorgesehene „Entstaatlichung“, die Chile zum Testfeld für jenen rigorosen Kapitalismus machte, den später auch die Regierungen Thatcher (Großbritannien) und Reagan (USA) propagierten.
Sprache der Junta
Bei dieser Sichtweise der chilenischen Verhältnisse nach dem 11. September 1973 ist es von einer gewissen Logik, dass das für die Putschisten reklamierte Widerstandsrecht den im Untergrund gegen die Diktatur kämpfenden Aktivisten nicht zugestanden wurde. Professorenkollege Bossle übernimmt dafür das Vokabular der Junta und diskreditiert den Widerstand als „Terrorismus“. Für die Opfer des Regimes hat er kein Wort. Schuld an der Diktatur sind für ihn auch nicht etwa die Putschisten: „Wäre Allende 1970 nicht chilenischer Präsident geworden, hätte es (Chile – d. Red.) noch heute eine parlamentarische Demokratie“, äußert er im Dezember 1982 in einem Zeitungsinterview. Bereits 1975 hatte Bossle den Präsidenten als „sozialistischen Hitler“ geschmäht. Dass Allende bis zum Schluss die bürgerlichen Freiheiten gewährleistete, dass Opposition und Unternehmerverbände ungehindert agieren konnten, darüber liest man bei den Würzburger Professoren nichts.
1988/89 schob eine starke Volksbewegung die Diktatur beiseite. An Salvador Allende erinnert in Santiago heute eine Statue. Sie steht neben der Moneda, jenem Ort, in dem der Präsident 1973 trotz Bombenhagels auf seinem Posten geblieben war.