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Paris
Debatten gegen den Volkszorn
Um sich aus der Krise zu befreien, in die die Protestbewegung der „Gelbwesten“ das Land gestürzt hat, versprach Präsident Emmanuel Macron lokale Bürger-Diskussionen.
Emmanuel Macron (Mitte), Präsident von Frankreich
Foto: Claude Paris, dpa | Emmanuel Macron (Mitte), Präsident von Frankreich
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 20.03.2019 02:11 Uhr

Das „administrative Mille Feuille“ gehört abschafft. Hierin sind sich Gérald und Catherine, Hugo und Didier einig. Auf einen gelben Post-it-Zettel haben sie diesen Vorschlag geschrieben und ihn an eine Wand geheftet. Konkreter ausgeführt wird er nicht, erhält aber lautstarke Zustimmung in der Gruppe. Mille Feuille, der Name der französischen Gebäckspezialität, wird aufgrund seiner diversen Blätterteig-Schichten, zwischen denen sich reichlich Konditorcreme befindet, muss oft für das ebenfalls vielschichtige Wirrwarr herhalten, das die französischen Verwaltungseinheiten kennzeichnet: Sich zwischen den 18 Regionen, 101 Départements, 4039 Kantonen und mehr als 36.000 Gemeinden zurechtzufinden und ihre jeweiligen Zuständigkeiten zu erfassen, erfordert zumindest den Besuch von ein bis zwei Elitehochschulen, schätzt Gérald ironisch schmunzelnd. Und hier muss er passen: „Ich war nur Elektriker.“

Weil ihn solche in seinen Augen „absurden Zustände“ stören, sitzt der Rentner an einem Donnerstagabend im Vereinshaus von Nogent-sur-Marne, einem Vorort im Westen von Paris, und diskutiert mit etwa 30 Mitbürgern darüber, wie sich die Organisation des Staates und der öffentlichen Dienste verbessern lassen. Es handelt sich um eine Veranstaltung im Rahmen der „Großen nationalen Debatte“, die Präsident Emmanuel Macron im Januar bis Mitte März lanciert hat. Mit der Idee dieser Diskussionsrunden in Städten und Gemeinden reagierte er auf die soziale Krise im Land, die durch die Protestbewegung der „Gelbwesten“ offenkundig geworden war und durch brutale Ausschreitungen am Rande der Demonstrationen zu eskalieren drohte. Indem die Bürger miteinbezogen und zur konstruktiven Mitarbeit aufgerufen wurden, so lautete das Kalkül, sollten sie wieder Vertrauen in die Politik gewinnen. Das Gefühl, alles würde über ihre Köpfe hinweg entschieden, war eine der Antriebskräfte der „Gelbwesten“.

Echter Gesprächsbedarf

Die Initiative kam einem echten Gesprächsbedarf entgegen. Im Fernsehen werden zwar vor allem die Bilder des Präsidenten gezeigt, der mit sportlich hochgekrempelten Hemdsärmeln in wechselnden Regionen mit Bürgern und Lokalpolitikern diskutiert – und ihnen demonstrativ aufmerksam zuhört. Es sind Bilder des Kommunikationsprofis Macron, der den Kontakt zum Volk sucht, das ihn als abgehobenen, arroganten „Jupiter“ zunehmend ablehnt. Als „Macron-Show“ verspotten seine Gegner die Auftritte und werfen ihm vor, bereits Wahlkampf für die Europawahl Ende Mai zu machen. Fernab der Kameras wurden allerdings in den vergangenen zwei Monaten überall im Land rund 6500 Bürger-Debatten organisiert, meistens von Mitgliedern oder Sympathisanten von Macrons Partei La République en Marche (LREM).

Das ist auch der Fall in Nogent-sur-Marne, wo der regionale LREM-Ableger gemeinsam mit Ehrenamtlichen Debatten zu den vier von Macron gesetzten Themenbereichen angeboten hat: Energiewende, demokratisches Engagement, Steuerpolitik und wie an diesem Donnerstagabend die Organisation des Staates und der öffentlichen Dienste. Anstatt im Plenum zu diskutieren, sitzen die Teilnehmer zunächst in Kleingruppen über Fragebögen, die LREM zur Verfügung stellt, um den Gesprächen einen Rahmen zu geben. „Denken Sie, dass es zu viele Verwaltungs-Stufen in Frankreich gibt?“, lautet eine Frage. „Würden Sie sagen, dass Sie den Zugang zu allen öffentlichen Diensten haben, die Sie brauchen?“, eine andere. Didier wiegt den Kopf hin und her. „Wenn ich in Nogent einen Personalausweis beantrage, muss ich ihn in Perreux abholen. Die Steuerbehörden wiederum sitzen in Créteil, dabei waren sie früher hier. Wer soll das noch verstehen?“, fragt er. In kleineren Orten verschwinden Postbüros und Bahnschalter, klagt er, mehr und mehr müsse man heute im Internet erledigen, bei Telefon-Hotlines hebe ohnehin keiner ab: „Wir erleben die Ent-Menschlichung unserer Gesellschaft.“ Zustimmendes Nicken in der Runde.

Gefühl der Solidarität

Vielleicht sitzen sie auch deshalb hier in diesem kahl eingerichteten Raum des Vereinszentrums anstatt zuhause auf dem Sofa – um gegen die Anonymität auch in einem Städtchen wie Nogent-sur-Marne anzukämpfen und zu merken, dass Nachbarn, die einander bisher kaum kannten, eigentlich ganz ähnlich denken. Diesen Effekt gibt es auch bei den „Gelbwesten“, die vom wieder gefundenen Gefühl der Solidarität berichten, das sie bei Kundgebungen für mehr soziale Gerechtigkeit empfinden.
Im Anschluss an die Diskussionen im kleinen Kreis stellt ein Wortführer jeder Gruppe deren wichtigsten Ideen vor und notiert sie auf Post-It-Zetteln, die er an eine Wand klebt. Gefordert werden neben der Abkehr vom „administrativen Mille Feuille“ auch die Abschaffung des Senats als relativ machtlose zweite Parlamentskammer oder mobile Hilfen für den Online-Kontakt mit den Behörden, die vor allem Senioren zugute kommen sollen. Am Schluss stimmen alle Teilnehmer darüber ab, welche Ideen von den Organisatoren auf die Internet-Seite der „Großen Debatte“ eingestellt werden. „Es herrscht ein echtes Bedürfnis der Leute, ihre Meinung zu äußern“, resümiert Antoine Cucurullo, Vorsitzender des LREM-Komitees des Départements Val-de-Marne, zu dem Nogent-sur-Marne gehört.

Freilich stehen jene, die sich an den Debatten beteiligen, der Regierung tendenziell nahe und gehören selten zu den rebellischen „Gelbwesten“, die weiterhin jeden Samstag demonstrieren. Sie lehnen die staatlich organisierten Diskussionsrunden ab. „Im Prinzip bin ich für Debatten, aber gegen solche Treffen, wo Macrons Freunde unter sich bleiben und von vorneherein mit ihm einverstanden sind“, sagt Jérôme Rodrigues, einer der Wortführer der „Gelbwesten“, der bei einer Kundgebung, vermutlich durch ein Gummigeschoss der Polizei, ein Auge verloren hat. Er ruft weiter zum Kampf um bessere Kaufkraft, niedrigere Steuern und inzwischen auch für eine Absetzung Macrons auf, der die Polizei mit extremer Härte gegen die Demonstranten vorgehen lasse.

Allgemeine Unzufriedenhei

Allerdings sinkt Woche um Woche die Zahl der „Gelbwesten“ auf zuletzt landesweit rund 40.000 Personen. Lange unterstützte eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Bewegung, die sich im November zunächst aus Protest gegen steigende Steuern auf Diesel und Benzin gründete, jedoch längst eine allgemeine Unzufriedenheit ausdrückt. Inzwischen aber wünschen sich rund zwei von drei Franzosen deren Ende.

Zu ihnen dürfte auch Macron gehören. Nachdem er zu Beginn seiner Amtszeit mit Leichtigkeit zu regieren schien und auch dank der LREM-Mehrheit in der Nationalversammlung seine Projekte schnell und kompromisslos umsetzen konnte, geriet er durch die „Gelbwesten“ stark unter Druck. Die Regierung setzte einen Anstieg der Ökosteuer auf Kraftstoff aus und entlastete einen Teil der Rentner von steigenden Sozialabgaben. Schließlich kündigte Macron sogar eine Erhöhung des Mindestlohns an, was die Staatskasse mit zehn Milliarden Euro belastete und das Ziel für 2019 zunichte machte, die Neuverschuldung gemäß des Maastricht-Kriteriums auf unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu drücken. Dabei wollte sich der französische Staatschef gerade im Jahr der Europawahl gegenüber den anderen EU-Ländern als solide wirtschaftender Partner präsentieren. In diesem Jahr stehen Reformen der Arbeitslosenversicherung mit schärferen Kontrollen von Jobsuchenden sowie des Rentensystems an.

Ausmaß der Wut unterschätzt

Doch zunächst hatte die Beruhigung der Lage Priorität. Allmählich steigen Macrons Beliebtheitswerte wieder auf das Niveau von vor der „Gelbwesten“-Krise, also rund 25 Prozent. Er selbst räumte gegenüber Journalisten ein, er habe das Ausmaß der Wut im Land unterschätzt: „Es ist ein riesiges kollektives Scheitern und ich übernehme meinen Teil der Verantwortung“, sagte er. „Aber ich habe noch drei Jahre, um das zu ändern.“ Die Regierung hat versprochen, aus den zigtausenden Vorschlägen, die aus den Debatten hervorgehen oder im Internet eingestellt wurden, Schlüsse zu ziehen. Darauf wird es ankommen, ob sie dauerhaft wieder an Glaubwürdigkeit gewinnt. Noch erscheint unklar, ob und wie beispielsweise auf die populäre Forderung nach mehr Volksbefragungen eingegangen wird. Oder inwiefern sich das „administrative Mille Feuille“ entblättern und vereinfachen lässt. Das erwartet man nicht nur in Nogent-sur-Marne.

 
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