Keiner von uns hatte Lust, über große Politik zu sprechen“, erinnert sich Altbundeskanzler Helmut Kohl. „Und so plauderten wir über Gott und die Welt.“ Der deutsche Regierungschef, der für den abendlichen Spaziergang im Tal des Selemtschuk eine Strickjacke übergezogen hatte, und Michail Gorbatschow, Staatschef der Sowjetunion und Generalsekretär der KPdSU, der einen Pullover überstreifte. Beide Kleidungsstücke gehören längst zum Fundus des Hauses der Geschichte in Bonn – als Teile der deutschen Einigungsgeschichte. Denn das, was am Abend des 15. Juli 1990 erreicht wurde, sollte Europa für viele Jahre verändern.
Dabei hatte die Unterredung keineswegs harmonisch begonnen. Die Wiedervereinigung war längst auf dem Weg. Gorbatschow war bereits im Mai deutlich geworden: „Das vereinte Deutschland muss, wie andere Völker auch, das Recht haben, seine Bündnisse selbst zu wählen.“ Doch in den darauffolgenden Wochen verwickelte sich der KP-Chef immer wieder in Widersprüche, nahm frühere Aussagen zurück. Kohl wollte Klarheit, aber längst wusste die deutsche Seite auch, dass Gorbatschow massiv unter Druck stand. Die Sowjetunion brauchte Geld, viel Geld und „Gorbi“ einen Triumph für den bevorstehenden Parteitag.
Es ging längst um sein Überleben als Reformpolitiker und dafür musste ein Erfolg her, der deutlich machte, dass die Einheit Deutschlands auch ein Vorteil für das eigene Riesenreich war.
Als Kohl und seine Delegation, zu der die damaligen Minister Hans-Dietrich Genscher (Außen) und Theo Waigel (Finanzen) sowie Regierungssprecher Hans Klein gehörten, am 14. Juli in Moskau ankamen, wurden sie im Kreml von Gorbatschow zwar freundlich begrüßt. Doch Kohl wollte sich nicht in Floskeln einwickeln lassen, sondern sicher sein, dass auch das wiedervereinte Deutschland Mitglied der Nato bleiben würde. Falls der Kremlchef dies anders sehe, solle er das bitte sofort sagen, stellte Kohl gleich klar. Dann werde man nämlich von Moskau aus wieder zurückreisen und nicht zusammen in den Kaukasus fliegen. Die Antwort des Sowjetführers vielsagend: „Wir fliegen, Herr Bundeskanzler.“
Es waren diese Signale, die das anschließende Treffen begleiteten und wohl zu einem Glücksfall der Geschichte machten, sodass fortan vom „Wunder vom Kaukasus“ gesprochen wurde. Schon auf den letzten Kilometern der Anreise winkten die Sowjetbürger den beiden mächtigen Männern zu. Im Hintergrund erklärte Raissa Gorbatschowa, die Ehefrau des Kremlchefs, dem deutschen Außenminister, wie wichtig das Treffen für ihren Mann sei. Später pflückte sie auf einer Wiese Blumen und überreichte den Strauß dem verdutzten deutschen Kanzler. „Auch wieder ein Signal“, erinnert sich der damalige Kanzlerberater Horst Teltschik. „Es konnte eigentlich keinen Streit geben, beide Seiten wollten ein gutes Ergebnis.“ Als die zwei Staatenlenker am Morgen danach im Auditorium der Lungenheilanstalt von Schelesnowodsk verkündeten, dass Deutschland mit dem Zeitpunkt seiner Vereinigung die volle und uneingeschränkte Souveränität erhält und dann selbst entscheiden kann, welchem Bündnis es angehören will, ist die Sensation perfekt. Parallel dazu werde man über den Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR sprechen. „Wir haben Realpolitik gemacht“, sagte Gorbatschow. Kohl schwärmte von einem „Höhepunkt in der deutsch-sowjetischen Geschichte“.
Letztlich ließ sich die damalige Sowjetführung kaufen. Schon im Mai hatte Moskaus Außenminister Eduard Schewardnadse bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen den Wunsch nach einem Kredit angedeutet, der sich positiv auf die Frage der Nato-Mitgliedschaft auswirken könne. Lebensmittel-Lieferungen gab es längst, nun brauchte man Geld. 20 Milliarden D-Mark in fünf bis sieben Jahren sollten es sein, trug der sowjetische Botschafter wenig später im Kanzleramt vor. Kurzfristig werde ein Finanzkredit von 1,5 bis zwei Milliarden D-Mark gebraucht. Kohl bot fünf Milliarden an, der Kreditvertrag wurde Mitte Juni in Moskau unterschrieben, und bereits am 13. Juli informierte Bundesfinanzminister Waigel seinen Chef, dass die Mittel abgerufen worden waren.
Im Kaukasus sicherte der Bundeskanzler 300 Millionen D-Mark zu, um zurückkehrenden Soldaten eine Ausbildung zu finanzieren. Außerdem versprach er, dass Bonn sich beim Bau von Wohnungen für Heimkehrer engagiere. Es war ein Deal nach dem Motto: Milliarden gegen deutsche Einheit.
Teltschik notierte später in seinen Aufzeichnungen: „Wenn Gorbatschow damals gesagt hätte: Herr Bundeskanzler, ich bin einverstanden, aber das kostet die Bundesrepublik Deutschland 50 Milliarden oder 80 Milliarden – hätten wir Nein sagen können?“
Sowohl Frankreichs Staatspräsident François Mitterand wie auch die britische Premierministerin Margaret Thatcher beobachteten die neue Annäherung an Moskau zurückhaltend bis ablehnend. Erst als im weiteren Verkauf auch noch Abrüstungsschritte hinzukamen und der Warschauer Pakt die Einordnung der Nato als Feind strich, wurde dem Westen klar, dass die deutsche Einheit auch ein Beitrag zur Ost-West-Entspannung sein würde. Im Rückblick sehen Geschichtsexperten die folgenden Schritte Gorbatschows als fatalen Fehler an, der nicht zuletzt zur heutigen Konfrontation des Westens mit Russlands Präsident Wladimir Putin führte. Denn für Kreml-Politiker galt das „Wunder vom Kaukasus“ auch als ungeschriebenes Versprechen der Nato, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen.
Doch mit dem Betritt der neuen EU-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn, mit dem Griff nach Georgien, Moldawien und der Ukraine verletzte das Bündnis nach Auffassung russischer Politiker genau diese Abmachung, auch wenn die nirgendwo geschrieben steht.
Politisch und organisatorisch lief das, was Kohl und Gorbatschow als Abzug der sowjetischen Truppen vereinbart hatten, reibungslos. Doch für viele Beteiligte war es eine Schmach. Offiziersfamilien kamen nicht als umjubelte Sieger nach Hause, sondern als Arbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Soldaten waren nicht die hoch dekorierten Helden, sondern aussortierte Mitglieder der sowjetischen Truppe, mit denen niemand etwas anfangen konnte. Als Höhepunkt dieser Demütigung gilt vielen das Bild des angetrunkenen russischen Präsidenten Boris Jelzin, der in Berlin auf einer Bühne torkelnd tanzte, während er doch eigentlich den Abzug des letzten Soldaten würdigen sollte. Die Wiederauferstehung des russischen Militarismus, wie er sich auf der Krim zeigte, werde deshalb von vielen getragen, deren Väter damals wie geprügelte Hunde Deutschland verlassen mussten, heißt es unter Historikern. Das „Wunder vom Kaukasus“ hat einen faden Nachgeschmack.