Rund 20 Kilometer westlich von Berlin, im kleinen Ort Elstal, ist die Luft sauber, Bienen fliegen summend von Blüte zu Blüte. Der Lärm und die Hektik der Großstadt sind hier weit weg. Diese Ruhe ist 1934 einer der Hauptgründe, weshalb die Wehrmacht entscheidet, hier das olympische Dorf für die Spiele 1936 zu bauen. Zwei Jahre später, rechtzeitig zu Beginn der Olympischen Spiele, ist das weltweit revolutionäre Vorzeigeprojekt mit 161 neuen Gebäuden aus massivem Mauerwerk fertig. Die Anlage wird in eine Hügel- und Waldlandschaft mit künstlichem See eingebettet. Über das kleine Paradies vor den Toren Berlins staunt damals die ganze Welt. Das war vor 80 Jahren.
Heute hat sich die Natur das Dorf längst zurückgeholt. Meterhohe Gräser und Büsche wuchern über die Anlage. Der See ist nahezu ausgetrocknet. Von vielen Gebäuden ist, wenn überhaupt, nur noch das Fundament erkennbar – wie von der ehemaligen Unterkunft der Athleten aus Bermuda und Monaco. Die Turnhalle, die Schwimmhalle und der ehemalige Speisesaal der Sportler sind noch erhalten. Anhand dieser Gebäude können sich Besucher ungefähr vorstellen, wie es hier zu Glanzzeiten ausgesehen haben mag.
In der Turnhalle könnte man heute noch problemlos turnen. In einer Ecke sind die olympischen Ringe gelagert – etwas verstaubt zwar, aber in den Farben Schwarz, Rot, Grün, Gelb und Blau noch deutlich erkennbar. Diese waren einst auf dem Dach des zentral gelegenen Speisehauses montiert, auch Haus der Nationen genannt. Wie früher bildet das dreistöckige, ovale Haus den Mittelpunkt des Dorfes, es ist mittlerweile innen komplett marode. Große Teile des Gebäudes dürfen Besucher wegen Einsturzgefahr nicht betreten. In der verwaisten Schwimmhalle bricht unter dem verrosteten Sprungturm eine Fliese nach der anderen vom Rand des leeren Beckens ab.
„Ein beeindruckendes Dorf mit einer krassen Geschichte. Es ist schade, dass es mittlerweile so heruntergekommen ist“, sagt Andreas Blessau, ein Besucher aus Berlin. In einem der Sportlerhäuser wächst eine Birke durch das fehlende Dach. Die Fenster sind zugemauert, der Putz bröckelt von den beigen Wänden.
In dieser zur Bruchbude verfallenen Unterkunft wohnt während der Spiele der US-Amerikaner Jesse Owens, mit vier gewonnenen Goldmedaillen der große Star der Olympischen Spiele von 1936. Wie alle anderen männlichen Athleten ist auch er im olympischen Dorf in Elstal untergebracht – die Athletinnen wohnen separat in einer Unterkunft neben dem Berliner Olympiastadion. Owens ist begeistert von den Lebens- und Trainingsbedingungen, bezeichnet das Dorf gar als „one of the seven wonders in the world“ – als eines der sieben Weltwunder.
„Die Betreuung und Versorgung der Sportler war damals nahezu perfekt“, sagt Christian Schwan, langjähriger Kenner der Geschichte des olympischen Dorfes. „Elstal dient bis heute den Veranstaltern von Olympischen Spielen als Musterbeispiel.“ Vom Architekten Werner March geplant, wird das Dorf binnen zwei Jahren für rund sechs Millionen Reichsmark von der Wehrmacht als „Geschenk an die Sportler“ errichtet. Auf 600 000 Quadratmetern entstehen für die über 4000 Athleten und ihre Betreuer einstöckige Unterkünfte, die alle Namen einer deutschen Stadt bekommen.
Jedes Haus hat eine Toilette, eine Dusche, Strom und Wasser und sogar einen Telefonanschluss – keine Selbstverständlichkeiten zu jener Zeit. Für jede Unterkunft stehen zwei Stewards parat, die – ganz in Weiß gekleidet – die Sonderwünsche der Sportler erfüllen. Es gibt ein prachtvolles Empfangsgebäude, ein Haus der Kultur, ein Kommandantengebäude und das Speisehaus der Nationen, die Turnhalle und die Schwimmhalle.
Hinzu kommt der knapp fünf Meter tiefe See, für den rund 100 000 Kubikmeter Erde ausgehoben werden. Wasservögel, Schwäne und Störche werden aus dem Berliner Zoo umgesiedelt und eine finnische Blockhaus-Sauna an das Ufer gebaut. Man will, dass es den Sportlern an nichts fehlt. Die niedrige Bauweise soll nach Angaben von Christian Schwan zu einer Verschmelzung des Dorfes mit der Natur führen.
Nach Vorhaben der nationalsozialistischen Führungsriege soll das „Dorf des Friedens“, wie es von ihnen auch genannt wird, den Athleten Erholungs- und Trainingsmöglichkeiten bieten, ihnen aber auch den Geist und die Haltung des neuen Deutschlands nahebringen. Während der olympischen Wochen präsentieren sich die Nationalsozialisten den Sportlern und der ganzen Welt nett und offen – bei den „Reichs-Propaganda-Spielen“, wie es später heißt. Doch hinter dieser Fassade der Freizügigkeit herrscht die Nazi-Denke. Schon zu Beginn der Planungen steht wohl fest, dass die Wehrmacht nach den Olympischen Spielen das Dorf zu militärischen Zwecken nutzen will – als Teil ihres Plans der verdeckten Aufrüstung. Deswegen auch die massive Bausub-stanz der Gebäude.
Die Spiele und das Dorf werden für die Nationalsozialisten zu einem großen Erfolg. Die internationalen Medien schwärmen von den Bedingungen im idyllischen Elstal, die Athleten ebenso. Sie können sich bestens auf ihre Wettkämpfe vorbereiten und voll in das interkulturelle olympische Leben eintauchen. Im prächtigen Speisesaal der Nationen wird ihnen von mehr als 200 Köchen fast jeder kulinarische Wunsch erfüllt.
Neben Frauen sind auf dem Gelände auch alkoholische Getränke strikt verboten – daran halten sich jedoch nicht alle. Im Lager der Italiener und Franzosen werden nicht wenige geleerte Weinflaschen entdeckt, und die Belgier trinken Erzählungen zufolge reichlich Bier. Abends gibt es ein vielfältiges Unterhaltungsangebot mit Fernsehübertragungen, den Berliner Philharmonikern oder dem Ballett der Staatsoper. Zu sehen bekommen die Athleten auch einen Streifen mit dem Titel „Der Neuaufbau des deutschen Heeres“. Im Haus der Kultur passieren alle Sportler am Eingang ein steinernes Wandrelief, auf dem Soldaten der Wehrmacht im Gleichschritt marschieren. Darüber steht: „Möge die Wehrmacht ihren Weg immer kraftvoll und in Ehren gehen als Bürge einer starken deutschen Zukunft.“
Nach den erfolgreichen Spielen dauert es nicht lange, bis die vermeintliche Weltoffenheit der Nationalsozialisten umschlägt. Aus dem olympischen Dorf wird schnell eine Infanterieschule des deutschen Heeres, aus dem großen Speisesaal ein Lazarett. Diese Nutzung ist bereits beim Entwurf des Dorfs berücksichtigt worden. Hitlers Helfer nennen Elstal nun nicht mehr „Dorf des Friedens“, sondern „die schönste Kaserne der Welt“.
Mit der Schönheit ist es bald vorbei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Untergang der Nationalsozialisten zieht die siegreiche sowjetische Armee auf das Gelände, reißt einen Großteil der Gebäude ab, baut zahlreiche Plattenbauten hinzu und nutzt Elstal bis zu ihrem Abzug 1992 selbst als Kaserne.
Und seitdem? Ist wenig bis gar nichts passiert. Das Dorf verschmilzt tatsächlich immer mehr mit der Natur, aber wohl nicht so, wie es sich die Nationalsozialisten damals vorgestellt haben. Eine Stiftung der Deutschen Kreditbank (DKB) hat das Gelände mittlerweile erworben und kümmert sich um den Erhalt der verbliebenen Gebäude. „Für so ein großes Gelände eine Nutzung zu finden ist nicht einfach“, sagt Barbara Eisenhuth, eine Sprecherin der DKB. Eine „Rettung“ des olympischen Dorfs sei auf Grund der Sanierungsbedürftigkeit vieler Gebäude mit hohen Kosten verbunden. „Deshalb ist es nicht so einfach, einen Investor zu finden“, sagt Eisenhuth. Es sei aber geplant, das Gelände zukünftig in eine neue Wohnsiedlung zu verwandeln. Bis dahin könne aber noch einige Zeit vergehen.
So lange summen die Bienen in Elstal. Am Besucherstand gibt es den Sommerblütenhonig von den Bienen aus dem olympischen Dorf zu kaufen. In regelmäßigen Abständen führt Christian Schwan eine Besuchergruppe durch die olympischen Ruinen und erzählt von der Geschichte dieses Ortes, die zwar erst 80 Jahre alt, aber doch schon so reich an Wendungen und Machtwechseln ist. „Jede Zeit hat aber etwas Bewahrenswertes“, sagt Schwan. Trotz der dunklen Zeit, in der es errichtet wurde, habe das Dorf auch viel Gutes gebracht.
In puncto Organisation und Betreuung zum Beispiel. Davon konnte sich Rio de Janeiro etwas abschauen. Kurz vor Beginn der Spiele herrschte im dortigen olympischen Dorf Berichten zufolge noch das Chaos: Die Toiletten liefen über, viele Wasserrohre waren undicht und es stank. Das alles hat es vor 80 Jahren in Elstal nicht gegeben.
Im Haus der Kultur ist immer noch das Wehrmachtsrelief zu sehen. Die Rückwand schmückt mittlerweile ein großes, von den Sowjets handgemaltes Lenin-Porträt in roter Farbe. Ein Besucher knipst das Porträt mit seinem Smartphone – zur Erinnerung an das vergessene Dorf.
Hitlers Spiele 1936 in Berlin
Dauer: Von 1. bis 16. August 1936. Eröffnet wurden die Spiele durch den damaligen Reichskanzler Adolf Hitler. Die Spiele werden deshalb heute von vielen noch „Hitlers Spiele“ genannt. Teilnehmer: 49 Mannschaften waren dabei mit rund 4000 Athleten (davon 328 Frauen) in insgesamt 19 Sportarten. Erfolgreichste Mannschaften: Das Deutsche Reich gewann mit 33 Goldmedaillen die meisten, gefolgt von den USA mit 24 Goldmedaillen und Ungarn mit zehn mal Gold. Erfolgreichster Sportler war Jesse Owens (USA) mit vier Goldmedaillen. Premiere: Nach der Idee von Organisator Carl Diem fand erstmals in der Geschichte ein Fackellauf statt. Dieser führte von Olympia bis nach Berlin. Stadion: Das Zentrum der Spiele war das Berliner Olympiastadion, das damals 100 000 Menschen fasste.
Infos zum Dorf: www.dkb-stiftung.de