Manfred Spitzer, 60, ist Psychiater und Gehirnforscher und arbeitet als Ärztlicher Direktor an der Uniklinik Ulm. Er ist auch Autor zahlreicher Bücher; sein neuestes trägt den Titel: „Die Smartphone-Epidemie“. Er warnt vor Suchtgefahren, zu wenig Bewegung und zu wenig Schlaf. Was der Arzt Eltern und Lehrern rät. Spitzers Publikationen sind bei vielen seriösen Wissenschaftlern umstritten. Der Vorwurf seiner Kritiker: Er werte Studien zur Smartphone-Nutzung nur insofern aus, als sie seine Thesen belegen. Abweichende Ergebnisse zitiere er nicht.
Frage: Ab wann ist man krankhaft smartphonesüchtig, Herr Professor Spitzer?
Manfred Spitzer: Eine Sucht liegt prinzipiell vor, wenn man etwas nicht lassen kann, obgleich es einem schadet; wenn man mit Anspannung, Gereiztheit, Angst, Aggressivität reagiert, sobald man von einem Verhalten abgehalten wird. Und dieses Verhalten zerstört das Leben, indem es etwa die sozialen Kontakte kaputt macht, die Beziehung, den Job gefährdet. Zudem sind Veränderungen im Gehirn zu beobachten.
Kann man nicht sagen, ab wie vielen Stunden am Tag es riskant wird?
Spitzer: Nein, entscheidend ist, wie beeinträchtigt das normale Leben ist.
Aber kaum einer wird doch von sich behaupten: Ich bin smartphonesüchtig?
Spitzer: Das ist das Problem vieler Suchterkrankungen. Nur wenige Betroffene erkennen rechtzeitig, wie abhängig sie sind, und gehen zum Arzt. Die Computer- und Internetsucht ist mittlerweile von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannt. Viele Menschen geben zumindest selbst zu, Schwierigkeiten zu haben, das Smartphone wegzulegen. Selbst Kinder sind da schon ehrlich. So hat eine große Mannheimer Studie ergeben, dass von 500 befragten Kindern im Alter von acht bis 14 Jahren acht Prozent im Risikobereich lagen oder bereits süchtig sind. Auf einem Suchtkongress kürzlich hat sich aber ein ganz anderes Problem ergeben: Während die Zahl der Internet- und Smartphonesüchtigen massiv steigt, haben wir in Deutschland nur etwa 200 Behandlungsplätze gerade für junge Patienten. Glaubt man der Suchtbeauftragten der Bundesregierung, so geht es um Zehntausende Betroffene, so dass hier ein großes Missverhältnis herrscht, das dringend gelöst werden muss.
Was richtet das Smartphone in uns an?
Spitzer: In der medizinischen Fachliteratur nachgewiesen sind Ängste, Aufmerksamkeitsstörungen, Depression, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, ein verstärktes Suchtverhalten – im Übrigen auch, was Tabak und Alkohol angeht. Durch die Nutzung von so- genannten Geosocial Networking Apps kommt es zudem zu mehr Gelegenheitssex, was die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten verstärkt. Smartphones sind zudem bei jüngeren Verkehrsteilnehmern Unfallursache Nummer eins.
Sie warnen vor allem vor den digitalen Gefahren für Kinder.
Spitzer: Weil Kinder und Jugendliche von nahezu allen Risiken und Nebenwirkungen des Smartphones stärker betroffen sind als Erwachsene. Störungen der Sprachentwicklung, der Aufmerksamkeit, des Lernens und der Motivation bis hin zur Willensbildung sind allesamt vor allem bei jungen Menschen anzutreffen. In diesem Alter befindet sich das Gehirn noch in Entwicklung, und genau diese normale Gehirnentwicklung wird durch das Smartphone gestört. Manche Schäden sind irreparabel.
Welche?
Spitzer: Kurzsichtigkeit zum Beispiel. Die Augen sind Teil des Gehirns. Sie wachsen, bis sie scharf sehen. Diese Entwicklung geht bis ins junge Erwachsenenalter hinein. Wenn man nun in jungen Jahren sehr viel in die Nähe schaut, werden die Augen angeregt, in die Länge zu wachsen – die Folge ist Kurzsichtigkeit. Davon sind in Europa 30 Prozent aller jungen Menschen betroffen, in China 80 Prozent und in Südkorea über 90 Prozent.
Sie kämpfen massiv gegen den Einzug digitaler Medien in den Schulen.
Spitzer: Ja, aus gutem Grund: Es gibt Studien, die deutlich zeigen, dass die Schüler durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht schlechter und unaufmerksamer werden. Zudem werden die Computer während des Unterrichts für fachfremde Tätigkeiten, etwa Videos Schauen oder Chatten, genutzt. Einmal angenommen, man würde die Studien zu Computern im Unterricht bei der deutschen Gesundheitsbehörde als „Therapie gegen Dummheit“ einreichen, würde die Beurteilung der Datenlage ganz klar Folgendes ergeben: Die Wirksamkeit ist nicht nachgewiesen, viele Nebenwirkungen dagegen treten ganz klar auf. Eine Ablehnung wäre die Folge. Warum sind wir in der Pädagogik so nachlässig? Sind unsere Kinder unwichtiger als unsere Gesundheit?
Aber wo, wenn nicht in der Schule, ist ein besserer Ort, Medienkompetenz zu erlernen?
Spitzer: Medienkompetenz gibt es nicht. Was heißt das überhaupt?
Ein sorgsamer Umgang mit digitalen Medien.
Spitzer: Aber das wollen Kinder doch genau nicht.
Daher müssen sie es unbedingt lernen.
Spitzer: Nein. Digitale Medien erzeugen Sucht und schaden der Gehirnentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Daraus zu folgern, dass wir ihnen so früh wie möglich den Umgang mit digitalen Medien beibringen müssen, ist falsch! Wir machen doch auch kein Alkoholkompetenztraining in Kindergärten und Grundschulen. Von Alkohol wissen wir auch, dass er der Gehirnentwicklung schadet und Sucht erzeugt. Daher halten wir Kinder und Jugendliche davon so lange fern, bis sie so weit stabil sind und sich in der Regel – das klappt nicht bei allen, das weiß ich als Psychiater – selbst kontrollieren können. Das ist ab dem 18. Lebensjahr.