Eigentlich sind beide nicht ihre Kandidaten. Einer hat es trotzdem auf ihren Kühlschrank geschafft. Barack Obama hängt vor dem Gefrierfach. Doch wirklich frösteln lässt sie Präsidentschaftskandidat Mitt Romney. „Er will unser soziales Netz zerstören, die Gewerkschaften vernichten“, schimpft Beatrice Lumpkin und stemmt die Arme in die Hüfte. Und Obama? „Er braucht ständig Druck, dass er das Richtige macht.“ Ihre eigene Partei – die Communist Party USA – hat 1984 zum letzten Mal einen Bewerber ins Rennen ums Präsidentenamt geschickt. Gus Hall scheiterte damals mit 0,04 Prozent. Beatrice Lumpkins Welt geriet dennoch nie ins Wanken. An den Sozialismus glaubt die 94-Jährige bis heute felsenfest.
Die Geschichte der Genossin Lumpkin beginnt in einem armseligen Ziegelbau in der East Bronx in New York in den Jahren der Depression. In den beiden Zimmern herrscht bedrückende Enge für die fünfköpfige Familie. Die Wohnung in der Mietskaserne ist im Winter kaum geheizt, im Sommer ein Brutofen. Dafür dampft es in der Waschküche der Eltern ganzjährig. Der Vater schleppt Schmutzkleidung aus dem ganzen Viertel herbei. Die Mutter wäscht Vorhänge und bügelt den ganzen Tag Hemden. Was beide verdienen, reicht gerade zum Überleben der Familie, die oft hungrig ins Bett geht: Vater, Mutter, drei Kinder. „Meine Eltern haben sich zu Tode gearbeitet“, sagt Beatrice Lumpkin. Ihr Zorn darüber ist bis heute geblieben. Elend, Hunger, Arbeitslosigkeit: Der Kapitalismus zeigt in jenen Jahren sein hässliches Gesicht. Das werde sich nie ändern, meint die Kommunistin: „Der Kapitalismus ist nun einmal von Grund auf böse. Die Armen werden immer ärmer, die Reichen werden immer reicher. Was hat sich geändert?“
Das Gesicht von Beatrice Lumpkin im Jahr 1934 ist das eines dürren Teenagers mit wütenden Augen und widerspenstigen dunklen Haaren. So blickt sie aus dem Foto: Junggenossin Beatrice, beide Eltern als Sympathisanten der Revolution von 1905 aus Weißrussland geflohen. Als Kind hat sie bei den Camps der Jungen Pioniere der USA revolutionäre Lieder gesungen, mit 16 Jahren ist sie in die Young Communist League eingetreten. Und dann gleich als Kommunistin von der Schule geflogen, weil sie für Redefreiheit demonstriert hat und einen „Student Peace Strike“ mitorganisierte. „Auf kommunistische Streikende warteten die Knüppel der Polizei, Gefängnis, Entlassungen und Schikanen. Doch ich hatte nichts zu verlieren, und wir konnten etwas für die Arbeiter erreichen“, sagt Lumpkin heute. Sie lässt kaum eine Demonstration aus. Und in den 30er Jahren herrscht in den Arbeitervierteln der Großstädte nicht selten der Aufruhr.
Lumpkin zieht ein Heft der Stahlarbeitergewerkschaft über das „Memorial Day Massacre“ aus dem Regal: In Chicago sterben 1937 zehn Arbeiter im Kugelhagel, mehr als hundert werden verletzt, als sie für ihr Recht einer Gewerkschaftsvertretung streiken. „Das darf nicht vergessen werden“, sagt die alte Dame. Beatrice Lumpkins hatten die Schüsse auf die Arbeiter tief bewegt. Nach dem Schulabschluss arbeitet sie als Gewerkschafterin, mobilisiert Arbeiterinnen. Bis sie als Kommunistin aus der Gewerkschaft geworfen wird. Ihre Parteimitgliedschaft, ihr Engagement gegen den Kapitalismus – das ist Beatrice Lumpkin schon als Teenager klar – würde ihr Leben zu einem Kampf machen. Und so darf bei einem Interview mit der roten Seniorin ein Abstecher bei der lokalen Partei nicht fehlen. Mit dem Auto geht es zu Chicagos Kommunistischer Partei.
Unterwegs erzählt Lumpkin von der Geschichte des Viertels, von deutschstämmigen Arbeitern, die vor fast hundert Jahren aus Pilsen kamen. „Viele von ihnen waren Sozialisten“, sagt sie stolz. Schräg gegenüber dem Parkplatz einer Bank liegt das „Unity Center“ der Kommunistischen Partei. Der Straßenzug wurde in den vergangenen Jahren aufgehübscht. Auch das KP-Gebäude kann sich sehen lassen: frisch sanierter Backsteinbau. Millionen Dollar hatten die US-Kommunisten über Jahrzehnte von der Sowjetunion erhalten. Geld, von dem die Partei wohl noch immer zehrt. In der Bibliothek blickt Lenin großformatig streng von der Wand.
Die örtliche KP-Funktionärin reicht Kaffee und Plätzchen, erkundigt sich höflich über die Partei „Die Linke“ in Deutschland. Doch schnell stellt sich heraus, dass zwischen den roten Backsteinwänden viel graues Betondenken zu finden ist. Der Prager Frühling war eine Konterrevolution – so wird die Geschichte hier geschrieben. Beatrice Lumpkin sitzt ein wenig verloren im Unity-Gebäude vor ihrer Tasse. Auch ihr fällt Kritik an der Sowjetunion schwer. Jeden Satz überlegt sie sich genau. Es geht um ein Land, an das sie geglaubt hatte, in dem sie ein Vorbild sah. In den 60er Jahren machte sie dort einmal Campingurlaub. Auch in Allendes Chile war sie, mehrmals in Castros Cuba, in der Tschechoslowakei und in Nordkorea.
So sucht sie nach Worten, die die Partei nicht belasten: Das fällt bei Stalin nicht leicht, den sie als psychisch kranken Menschen sieht. Und bei der Redefreiheit, für die sie in den USA gekämpft hat, die sie bei ihren Reisen in den real-existierenden Sozialismus aber niemals einforderte. „Natürlich gab es in der Sowjetunion keine Demokratie, wie wir sie verstehen. Keine Redefreiheit, wie wir sie wollen“, meint sie. „Aber es bestand ein Recht auf einen Arbeitsplatz, Bildung und medizinische Versorgung.“ Beides müsse zusammengehören, sagt sie: „Ohne Demokratie und eine wirklich vollständige Redefreiheit geht es nicht.“
An einen wichtigen Grund, warum sie ihren Glauben an den Kommunismus nie verloren hat, erinnert ein Wahlplakat im Unity-Center. Frank Lumpkin in den 50er Jahren ist darauf zu sehen: Gewerkschafter, Kommunist, Stahlarbeiter und vor allem ihre große Liebe. Zusammen haben sie die Hexenjagd McCarthys und die Rassensegregation durchgestanden. Damals hat sie wohl alles in ihrer Person vereint, was Amerikas Rechte hassen: Sie ist Kommunistin, Jüdin, Gewerkschaftlerin, Feministin und zu allem Überfluss auch noch mit einem Farbigen verheiratet. Als Frank Lumpkin 2010 stirbt, würdigen lokale Medien seine Verdienste um die Arbeiterrechte. „Das hat einfach gut getan“, sagt Beatrice Lumpkin.
Als ihr in der McCarthy-Ära ein FBI-Agent nachts auflauert, hätte sie sich das niemals vorstellen können. „Ich bin damals einfach losgerannt“, sagt sie. Das junge Paar war gerade umgezogen. „Wir wussten, das FBI würde versuchen, unseren Ruf in der Nachbarschaft zu ruinieren. Darin waren sie gut“, erinnert sie sich. Im Viertel gibt es ein Problem mit der Versorgung durch sauberes Trinkwasser. Die Lumpkins mobilisieren erfolgreich die Bewohner. „Wir hatten dann bei unseren Nachbarn einen guten Stand. Aber andere Menschen hat McCarthy in den Selbstmord getrieben.“
Als die Zeiten der Schauprozesse enden, bildet sich Arbeiterin Beatrice Lumpkin zur Highschool-Lehrerin fort. 1965 tritt sie ihre erste Stelle an, bis heute ist sie in der Lehrergewerkschaft in Chicago aktiv. Genauso in der Occupy-Bewegung, in der sie trotz künstlichen Kniegelenken mit flottem Schritt mitmarschiert. „Wenn ich Unrecht sehe, muss ich kämpfen. Das wird mein Leben lang so bleiben“, sagt die Kommunistin. Ein Blick auf die Skyline von Chicago müsste ihr eigentlich den Mut nehmen. Die uneinnehmbaren Burgen des Kapitalismus in der City ragen hinter dem Unity-Center auf. Ganz klein wirkt die 94-Jährige zwischen den Glasfronten und Granitmauern der Konzerne und Banken. Beatrice Lumpkin nestelt ein weißes T-Shirt aus ihrer Tasche. „Menschen vor Profit“ steht darauf. Sie streift es sich für ein Foto über. In der Tasche ist noch ein rotes Shirt der Lehrergewerkschaft. „Das ziehe ich später beim Occupy-Meeting an“, lacht sie.
Bei der Bank of America ziehen drei Männer gerade die US-Fahne ein. Der Slogan scheint ihnen zu gefallen. Für die alte Dame gibt es ein paar nette Sätze. Beatrice Lumpkin strahlt: „Wissen Sie, ich bin mir da einfach sicher: Den Kapitalismus findet die Mehrheit einfach falsch.“ Dann ist es an der Ampel grün, sie marschiert los. Vorbei an dem Aston Martin, der vor ihr halten muss. So leicht sind Kapitalisten sonst nicht zu stoppen. Aber wer weiß das besser als Beatrice Lumpkin auf ihrem Weg zum Occupy-Meeting.