Als Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem abendlichen EU-Gipfel am Dienstag in Brüssel ein Fazit der Gespräche zog, fiel ein Wort auffallend häufig: handlungsfähig. Tatsächlich wächst unter dem Führungspersonal der EU die Angst, dass beim Ringen um die Besetzung der Topjobs Gräben entstehen könnten, die über Monate hinweg keine Einigung möglich machen. Doch die wird gebraucht: Schließlich steht gleich anschließend eine der wichtigsten Entscheidungen der Union für die nächsten Jahre an: der Entwurf eines gemeinsamen Haushaltsrahmens für die Jahre 2021 bis 2027. Die Anspielung der Kanzlerin auf die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft wurde vor diesem Hintergrund als Wink verstanden, dass man Zugeständnisse und Kompromisse beim Personaltableau auch durch ein Entgegenkommen an anderer Stelle honorieren könnte.
Donald Tusk, der seinen Job als EU-Ratspräsident und Gipfelchef Anfang November räumt, wurde von den Staats- und Regierungschefs zum Regisseur der Verhandlungen berufen. Zusammen mit jeweils zwei Staatenlenkern aus den Reihen der Christ- und Sozialdemokraten sowie der Liberalen (die Grünen stellen bisher keinen Premierminister in einem Mitgliedstaat) soll der 62-jährige Pole, der als konservativ-liberal gilt, nun Gespräche mit dem EU-Parlament führen und herausfinden, auf wen man sich einigen könnte. Dabei geht es aber um das gesamte Personalgerüst der EU, denn es sind sechs Positionen neu zu besetzen: der Parlaments- sowie der Kommissionspräsident, hinzu kommen der EU-Ratspräsident, der Hohe Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik, der Eurogruppen-Chef sowie der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB).
Das sind die Kandidaten - und ihre Chancen
Dabei sollte im Idealfall ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen, Vertretern großer und kleiner Staaten, Politikern aus Ost und West, Nord und Süd gegeben sein – eine nur schwer lösbare Aufgabe. Welche Kandidaten gibt es für welche Position? Und welche Chancen haben sie? Diese Namen werden in Brüssel derzeit besonders oft genannt, was sehr viel oder aber nur wenig heißen kann. Beim EU-Gipfel am 21. Juni wollen die Staats- und Regierungschefs entscheiden.
Manfred Weber (46), Christdemokrat
Bisher Vorsitzender der größten Fraktion im EU-Parlament. Dazu will er sich in der kommenden Woche wieder wählen lassen. Er war der Spitzenkandidat der Christdemokraten, die ihn weiter stützen. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und einige andere lehnen ihn bisher ab, die Kanzlerin hält an ihm fest. Die EVP-Fraktion will keinen anderen Bewerber akzeptieren.
Chancen: Nach wie vor gut. Er kann sich darauf berufen, dass er aus der demokratischen Europawahl als Sieger hervorgegangen ist. Sollte er nicht der neue Kommissionschef werden, würde man ihm wohl das Amt des Parlamentspräsidenten als Trostpflaster anbieten.
Frans Timmermans (58), Sozialdemokrat
Bisher erster Vizepräsident der EU-Kommission. Der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten träumt von einer „progressiven Mehrheit“ im neuen Parlament, von der er sich wählen lassen will. Problem: Die gibt es nicht. Sozialdemokraten plus Linke plus Grüne sind nicht stark genug. Timmermans gilt allerdings als chancenreicher Bewerber für den Job des Außenbeauftragten der EU. Schließlich war er mal Außenminister der Niederlande.
Chancen: Als Kommissionspräsident dürfte er nicht zum Zug kommen. Die Christdemokraten werden nicht gegen den eigenen Mann einen Sozialdemokraten wählen. Als Außenbeauftragter eine gute Wahl.
Margrethe Vestager (51), sozialliberal
Die gebürtige Dänin und bisherige Wettbewerbskommissarin der EU gilt zwar vielen als Wunschkandidatin, weil sie sich als durchsetzungsfähige Frau im Kampf gegen Monopole erwiesen hat. Ihr größtes Problem: Sie zog nur als Frontfrau eines liberalen Teams in den Wahlkampf und erklärte sich erst am Sonntagabend nach der Wahl selbst zur Spitzenkandidatin. Das Parlament will aber nur einen „echten“ Spitzenkandidaten zum Kommissionschef machen. Damit dürfte Vestager raus sein.
Chancen: gering. Die Christdemokraten lehnen eine Wahl Vestagers strikt ab.
Michel Barnier (68), Christdemokrat
Lange Jahre war er EU-Kommissar, zeitweise französischer Außenminister. Zuletzt erwarb er sich als Chefunterhändler bei den Brexit-Verhandlungen hohes Ansehen. Dass Macron ihn nun als möglichen Kommissionspräsidenten ins Gespräch bringt, überrascht. Denn der französische Staatspräsident, dessen Europaabgeordnete zu den Liberalen gehören, wird wohl kaum ernsthaft einen Christdemokraten befördern wollen. Außerdem gilt: Wenn Macron Weber nicht mitträgt, wird Merkel keinen Franzosen akzeptieren.
Chancen: gering. Eher ein Zählkandidat.
Christine Lagarde (63), konservativ
Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) und frühere französische Finanzministerin gilt seit langem als Geheimtipp. Ihr Problem: Macron könnte sie zwar vorschlagen, aber Lagarde gehört den französischen konservativen Republikanern an. Sie müsste also von der EVP akzeptiert werden, was diese nicht tun würde, denn das wäre ein Affront gegen Weber.
Chancen: gering.
Dalia Grybauskaite (63), konservativ
Die frühere EU-Kommissarin und heutige Staatspräsidenten Litauens gilt vielen als Bestbesetzung für die Position der EU-Ratspräsidentin. Sie tritt durchsetzungsstark, wortgewandt und stets pointiert auf. Ihr Vorteil: Sie könnte als Frau aus einem östlichen Mitgliedsland gleich zwei wichtige Kriterien erfüllen.
Chancen: sehr gut.
Kristalina Georgiewa (65), konservativ
Die bulgarische Politikerin war EU-Kommissarin und verließ die Juncker-Kommission 2017 Richtung Weltbank. Sie wird als mögliche neue Kommissionspräsidentin ins Spiel gebracht, weil auch sie den Osten der Gemeinschaft vertreten könnte.
Chancen: gering.
Charles Michel (43), liberal
Der Ministerpräsident Belgiens hat mehrfach großes Interesse am Job des EU-Ratspräsidenten signalisiert – zumal er seit den nationalen Wahlen am vergangenen Sonntag frei ist. Er gilt als sehr kompromissfähig und geschickter Verhandler. Unklar ist, ob die Liberalen selbst ihn mittragen würden. Denn zumindest Fraktionschef Guy Verhofstadt müsste dann seinen Traum auf einen anderen Topjob begraben.
Chancen: gut.
Mark Rutte (52), bürgerlich-liberal
Der Premierminister der Niederlande gilt – nach der Absage Merkels – als Kandidat vieler für den Stuhl des EU-Ratspräsidenten. Allerdings müsste man ihn noch überreden. Laut „Spiegel“ hat er den Posten (den er offenbar als zu wenig ausfüllend ansieht) mit dem Hinweis abgelehnt, er wüsste nicht, was er dann ab Dienstagmittags machen sollte.
Chancen: gering, da er selbst nicht will.
Katarina Barley (50), Sozialdemokratin
Die deutsche SPD-Spitzenkandidatin und bisherige Bundesjustizministerin wird in Brüssel als potenzielle Anwärterin für einen Führungsjob genannt. Man müsse der ehemaligen Ministerin schon etwas anbieten, sagen Beobachter. Denkbar wäre, Barley als einen von vermutlich 14 Vizepräsidenten des Europäischen Parlamentes zu installieren.
Chancen: solide.
Jens Weidmann (51)
Der Präsident der Bundesbank wurde lange als natürlicher Nachfolger des Italieners Mario Draghi für den Präsidentenstuhl der Europäischen Zentralbank (EZB) genannt. Unklar ist allerdings, ob Merkel diesen Job überhaupt für Deutschland haben will. Hinzu kommt, dass Weidmann wegen seiner Kritik an Draghis Kurs in der Schuldenkrise wohl nicht in allen Mitgliedstaaten durchsetzbar wäre.
Chancen: unsicher.
Klaus Regling (68)
Chef des Europäischen Stabilitäts-Mechanismus (ESM) in Luxemburg. Regling ist parteilos, hat lange im Finanzministerium unter Theo Waigel gearbeitet. Sollte die Bundeskanzlerin nach der EZB greifen und Weidmann nicht vermittelbar sein, gilt Regling als herausragende Wahl mit großem Zuspruch auch aus anderen Mitgliedstaaten.
Chancen: solide.
Olli Rehn (57), liberal
Der Präsident der finnischen Notenbank war lange als Währungskommissar in Brüssel tätig. Er wird als möglicher neuer EZB-Präsident gehandelt, falls Deutschland und Frankreich nicht auf einem eigenen Kandidaten bestehen. Außerdem könnte man mit Rehn den Norden abdecken.
Chancen: eher begrenzt.
Guy Verhofstadt (66), liberal
Der frühere belgische Premierminister sitzt derzeit der liberalen Fraktion vor und hat den Deal mit Frankreichs Staatspräsident Macron eingefädelt. Dessen LREM-Europaabgeordnete und die bisherige Alde-Fraktion werden nun zusammen ein Bündnis bilden und sind mit 105 Mandaten die drittstärkste Kraft im neuen Abgeordnetenhaus. Verhofstadt würde gerne Präsident des Parlamentes werden, braucht dazu aber die Stimmen anderer Fraktionen. Bei den Christdemokraten könnte man sich wohl vorstellen, Verhofstadt zu wählen, wenn die Liberalen dafür Weber mittragen.
Chance: sehr aussichtsreich.
Josep Borrell (72), Sozialist
Der Spanier hatte schon einmal eine Führungsposition in der EU inne. Von 2004 bis 2007 stand er als Präsident dem Europäischen Parlament vor. Ministerpräsident Pedro Sanchez holte Borrell als Außenminister in sein Kabinett. Und da Sanchez seit seinem Wahlerfolg auf mehr Einfluss in Brüssel pocht, taucht Borrell immer öfter als möglicher EU-Außenbeauftragter auf. Die Vorstellung gilt einigen als reizvoll, da man so auch den Süden abdecken könnte. Denn ein italienischer oder griechischer Politiker scheint derzeit nicht wählbar. Als Alternative wird überlegt, Madrid den Vorsitz der Eurogruppe anzubieten.
Chancen: machbar.